
Wednesday, 10. June 2020, 21:07 159182325709Wed, 10 Jun 2020 21:07:37 +0100, Posted by admin1 in Heft 217, No Comments.
Bildungsverlust infolge akuter Digitalisierung?
Überlegungen zum Fernunterricht in der Hochschullehre.
Von Tobias Studer
Mit dem Lockdown aufgrund der Covid-19-Pandemie sahen sich die Hochschulen mit der Erwartung konfrontiert, die gesamte Lehre auf Fernunterricht umzustellen.1 Aus Sicht der Hochschulen scheint die akute Digitalisierung des Unterrichts unkompliziert gelungen zu sein, was allgemein positiv hervorgehoben wird. Die Entwicklung wirft allerdings auch ein etwas unangenehm anmutendes Licht auf die Hochschullehre, ging man doch eigentlich davon aus, dass Bildung mit unmittelbaren Interaktionen sowie direkt diskursiv geführten Auseinandersetzungen verbunden sein müsse, da es ansonsten zu einem Bildungsverlust komme. Auf diese Widersprüche wird allerdings kaum aufmerksam gemacht.
«Wenn Bildung zu einem
vorpräparierten Gut wird,
[…] ist der Schritt zu einer
Veranstaltung ohne Präsenz
von Dozierenden ein
kleiner.»
Im hochschuldidaktischen Duktus akuter Digitalisierung hat sich eine Unterscheidung zwischen synchroner (direkter) und asynchroner (indirekter) Kommunikation durchgesetzt: Die Studierenden haben die Möglichkeit, sich entweder direkt – also vermittelt über etwelche Video-Tools – mit Dozierenden oder KommilitonInnen auseinanderzusetzen oder sich von Ort und Zeit unabhängig mit den vorbereiteten Inhalten zu beschäftigen. Unter Letzterem ist zu verstehen, dass die in vielen Fällen bereits angefertigten Präsentationen mit einer Video- und Tonspur versehen werden. Zu diesen scheinbar problemlosen digitalen Formen kontrastiert der wohltuend und doch fast antiquiert erscheinende Hinweis an der Hochschule, ein Studium könne ja gut auch mit der Lektüre von Texten bestritten werden. Die Aufforderung, die Studierenden könnten in dieser Zeit des Fernunterrichts ja einfach etwas lesen, steht freilich quer zum Entscheid, infolge der Pandemie den Unterricht umfassend zu digitalisieren. Gemessen an einem kritischen Bildungsverständnis wäre zumindest zu diskutieren, was es zu bedeuten hat, wenn Hochschulen ihre Lehrformen innert weniger Wochen komplett auf einen online stattfindenden Unterricht umstellen können und dies auch bereitwillig tun.
Interessanterweise existierten die aktuell akut umgesetzten digitalen Lehr- und Lernformen bereits vor Corona. Sie wurden aber nur wenig eingesetzt. Dass Dozierende ein zwiespältiges Interesse daran haben könnten, ihren Unterricht aufzuzeichnen und online zugänglich zu machen, wurde rund um digitales Lehren an den Hochschulen nicht angemessen diskutiert. Insofern macht es den Anschein, als könnten die Hochschulen dank der Pandemie die Diskussion der Probleme der Digitalisierung für die Bildung umgehen und gleichsam suggerieren, Bildung dank der Digitalisierung befördert zu haben. So aber laufen sie Gefahr, einem systematisch erzeugten Bildungsmissverständnis aufzusitzen.
Was genau bedeutet Bildung?
Bildung unter Zwang ist gleichbedeutend mit Erziehung und Anpassung. Bildung in einem kritischen Sinne ist mit Musse verbunden, mit verfügbarer Zeit und mit der weitgehend selbstgesteuerten Auseinandersetzung mit Inhalten. Wo es um das kritische Nachvollziehen von Argumenten geht, stellt das körperlich vorhandene Gegenüber eine entscheidende Projektionsfläche im Prozess des Lernens dar. Bildung ist nicht nur Auseinandersetzung mit Wissen, sondern auch ein persönlicher Prozess im Austausch mit den Personen als Wissensträger, eine Auseinandersetzung mit den Personen als Träger einer Sachautorität. Dies gilt auch umgekehrt, auch die Dozierenden sind auf ein Gegenüber angewiesen, welches im digitalen Raum verloren geht.
In der Didaktik liegt ein Moment des Betrugs an den Studierenden, insbesondere auch im Falle einer digitalen Form: Das Erleben von Kultur und die Auseinandersetzung mit Wissensinhalten wird unter pädagogischen Gesichtspunkten begrenzt, was die Möglichkeit einer assoziativen Auseinandersetzung mit der Realität raubt oder zumindest einschränkt. Gleichzeitig ist eine kritisch verstandene Bildung auch an die materiellen Bedingungen zurückzubinden: Wem wird welche Bildung zur Autonomie verwehrt, welche Privilegien sind im Bildungssystem in welcher Form vorhanden? Wo Bildung zu einer im Voraus zurecht gestutzten – oder heutzutage eben digital vorpräparierten – Wissensvermittlung wird, droht sie zur Halbbildung zu werden, wie das Theodor W. Adorno 1959 allgemein beschreibt: Halbbildung verliert die Möglichkeit der Erfahrung ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit, indem Bildung auf das Sammeln von Wissensbeständen reduziert wird.
Bildung bleibt in ihrer bestehenden Form grundlegend widersprüchlich, eine Kritik an den aktuellen Veränderungen schliesst die Kritik an der bestehenden Form nicht aus: Verschulung (die Hochschullehre ist durch die Orientierung an 45’-Lektionen und Präsenzpflicht zeitlich und örtlich in ähnlicher Weise wie die Primarschule strukturiert) und Kirchen-Ähnlichkeit (der Dozent als Träger des Wissens auf der Kanzel im Hörsaal) unterschlagen das Potential einer kritischen Bildung als Auseinandersetzung.
Zur Kritik einer digital präparierten Halbbildung
Vor dem Hintergrund dieses kritisch-materialistischen Bildungsverständnisses lassen sich folgende Aspekte zum Fernunterricht in der Hochschullehre benennen:
1. Wenn Bildung zu einem vorpräparierten Gut wird, welches sich entlang von einer begrenzten Anzahl Bullet Points und Stichworten auf Präsentationen notieren lässt, ist der Schritt zu einer Veranstaltung ohne Präsenz von Dozierenden ein kleiner. Insofern sind auch Bedingungen geschaffen, bei denen es die Dozierenden als Gegenüber in der Tat nicht mehr braucht. Dass Instrumente aus der Unternehmenslogik übernommen werden, wissen wir bereits seit der flächendeckenden Einführung von Präsentationen, welche den Dozierenden als Entwickler eines Arguments an der Wandtafel ablösten. Wo also kein Inhalt vorhanden ist, lässt sich getrost auf Didaktik und Methodik setzen.
2. Bildung wird dann zur Halbbildung, wenn die digitalen Formate dazu verwendet werden, die Inhalte in ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit noch zu stärken. So zeigt sich im Hochschulkontext bei den Studierenden eine veritable Sammelwut von Präsentationen und Dokumenten aus Lehrveranstaltungen; das Sammeln von Inhalten und nicht das erfahrungsbezogene Durchdringen der Themen rückt in den Vordergrund. In seiner Theorie zur Halbbildung hat Adorno beschrieben, dass der technische Fortschritt unter den vorherrschenden Bedingungen eine Zweideutigkeit aufweist, da möglicherweise der Zugang zu Bildung vereinfacht wird, gleichsam die Qualität von Bildung im oben beschriebenen Sinne aber zu erodieren droht.
3. Die aktuellen Entwicklungen machen deutlich, dass in der Lehre digitalisiert wird, weil es technisch machbar ist und als besonders kosteneffizient definiert wird, und nicht, weil es Sinn macht. Es soll nicht bestritten werden, dass es Wissensinhalte gibt, die bestens über die neuen technischen Mittel gelernt werden können. Auf dieser Ebene unterscheidet sich das Lernen allerdings nur geringfügig vom alten Vokabel-Kasten, in welchem das zu lernende Wissen abgelegt und gelernt wird. Dass die Einführung neuer Lern- und Lehrtechnologien auch bisweilen zu pädagogischen Leerläufen führt, liesse sich an den in den 1970er-Jahren flächendeckend eingebauten und rasch wieder entfernten Sprachlaboren in der Volksschule beobachten.
4. Die aktuellen Digitalisierungsbestrebungen werden an den Hochschulen bereits jetzt mit den Vorstellungen und Erwartungen verbunden, dass sich die Entwicklungen auch nach der Krise weiter in der Lehre verankern lassen. Es macht allerdings den Eindruck, als wären neben inhaltlichen Fragen auch weitere organisationale Aspekte dieser Veränderungen noch ungeklärt: So liessen sich durchaus Gründe für einen digitalen Fernunterricht finden, wenn damit Freiheitsgrade erhöht werden. Insofern wäre eine zentral zu klärende Frage, inwiefern ein Fernunterricht neuen Ausschluss produziert und wo er allenfalls auch verbesserte Inklusion schaffen kann. Es liesse sich durchaus mit unterschiedlichen Formen experimentieren, ohne digitales Lernen und Lehren gleich zum Dogma zu erheben und anzunehmen, dass digitales Lernen per se inklusiver und zugänglicher ist.
5. Eine interessante und abschliessende Beobachtung ist im Zusammenhang mit den sogenannten Leistungsnachweisen erkennbar: Für das Frühlingssemester wurde aufgrund des Fernunterrichts eine grosse Flexibilität bei der Gestaltung von Leistungsnachweisen möglich. Das eingeführte «Notrecht» ermöglichte gegenüber den Studierenden den Nachweis ihres Lernprozesses ihren jeweiligen individuellen Situationen angemessen zu gestalten, wie beispielsweise bei verstärktem familiärem Betreuungsaufwand. Unter «normalen» Bedingungen sind für alle entsprechenden Anpassungen ärztliche Bescheinigungen oder ein Beleg entsprechender familiärer Belastungen seitens der Studierenden notwendig. Dass es machbar ist, Studierenden die individuell notwendigen und für den Bildungsprozess sinnvollen Zeiten und Formen von Leistungsnachweisen zur Verfügung zu stellen, ohne dass eine Hochschule an dieser «Uneinheitlichkeit» zerbricht, konnte erst eine Pandemie zeigen. Nichtsdestotrotz zeichnet sich bereits ab, dass die Rückkehr zur «Normalität» mit einer Abkehr von diesen Möglichkeiten verbunden ist.
Letztlich bleibt auch die akute Digitalisierung im Bildungssystem der in Bildung inhärenten Dialektik verhaftet. Bildung bleibt ein gesellschaftliches Versprechen, hat aber die Problematik ihrer eigenen Reduktion auf Halbbildung immer schon in sich. Es wäre das Mindeste, dass der mögliche Verlust an Bildung in der allgemeinen Digitalisierungs-euphorie mitgedacht wird.
Dr. Tobias Studer arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Olten. Er lehrt und forscht zu den Themen Kritische Theorie in der Sozialen Arbeit, Arbeitsintegration, Pflegefamilien, Bildung und Sozialpädagogik.
1 Der Schreibende arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und sah sich Mitte März mit der Situation konfrontiert, mitten im Semester sowohl grössere als auch kleinere Lehrveranstaltungen als Fernunterricht weiterführen zu müssen. Die Rückmeldungen der Studierenden nach rund zwei Monaten zeigen, dass sich die Lehre auch in Form von Video-Konferenzen aufrechterhalten lässt, Diskussionen über Texte und Inhalte aber nur erschwert möglich sind. In kleineren Gruppen ist ein Austausch über die entsprechenden Video-Tools machbar, durch die Distanz der Online-Formate ist aber non-verbale Kommunikation wie Mimik und Gestik in Gesprächen schwierig einzuschätzen.
Bild: view7 / photocase.de
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