
Saturday, 23. April 2016, 23:15 146145334011Sat, 23 Apr 2016 23:15:40 +0100, Posted by admin1 in Heft 196, No Comments.
Innovative Entwicklungen
Bei der Umsetzung des Passepartout-Konzepts beziehungsweise der Didaktik der Mehrsprachigkeit (DdM) gibt es erste Erfolge. Für die Lehrpersonen sind beim Wechsel von einem mono- zu einem multilingualen Ansatz die knappen zeitlichen Ressourcen die grösste Herausforderung. Schulleitungen können dabei Unterstützung leisten.
Von Susanna Schwab
Zur Umsetzung des Gesamtsprachenkonzepts von 1998 und der Sprachenstrategie von 2004 (EDK, 2004, 2013) unterzeichneten sechs Kantone an der Sprachgrenze zwischen der Deutschschweiz und der Westschweiz 2006 eine interkantonale Vereinbarung. Die Vereinbarung erhielt den Namen Passepartout1.
Passepartout
Das Ziel der Zusammenarbeit bestand laut Projektbeschrieb darin, «den künftigen Fremdsprachenunterricht zu entwickeln und in Fragen der Didaktik, der Stundentafeln, der Lehrpläne, der Lehrmittel, des Anforderungsprofils der Lehrpersonen, der Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen, der Evaluationsinstrumente, des Sprachenportfolios und der Kommunikation eine möglichst hohe Koordination zu erreichen» (vgl. Neukonzeption des Fremdsprachenunterrichts im Rahmen der interkantonalen Kooperation zwischen den Kantonen BL, BE, BS, FR, SO und VS). Die sechs Passepartout-Kantone einigten sich auf die Sprachenfolge Französisch vor Englisch. Französisch als erste Fremdsprache wird ab der 3. Klasse und Englisch als zweite Fremdsprache wird ab der 5. Klasse unterrichtet.
Die Passepartout-Kantone verfolgen neben der Implementierung zweier Fremdsprachen in die Primarstufe noch weitere Ziele. Zu den wichtigsten Merkmalen einer wissenschaftlich fundierten Fremdsprachendidaktik gehören die Kompetenzorientierung (basierend auf dem GER – Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen), die Didaktik der Mehrsprachigkeit und das konstruktivistische Lehr- und Lernverständnis. Seit 2012 können Lehrpersonen auf das Handbuch «Neue fremdsprachendidaktische Konzepte» (Grossenbacher, Sauer, & Wolff, 2012) zurückgreifen, wenn sie den Lehrplan Passepartout umsetzen und Lehr- und Lernmaterialien im Unterricht einsetzen.
Im Mittelpunkt der Umsetzung des Gesamtsprachenkonzepts/der Sprachenstrategie steht die funktionale Mehrsprachigkeit.
«Im Zentrum des Fremdsprachenunterrichts in der Volksschule stehen das Verstehen und das sich Verständlich-Machen-Können. Solange die Verständigung gelingt, spielen Fehler, die dabei gemacht werden, eine untergeordnete Rolle. Dieses Verständnis von Mehrsprachigkeit wird mit dem Fachbegriff funktionale Mehrsprachigkeit umschrieben.»
(Passepartout, Didaktische Grundsätze, S. 4)
Im Auftrag von Passepartout erarbeiteten Sauer und Saudan «Aspekte einer Didaktik der Mehrsprachigkeit» und schlossen daraus «[E]in Sprachenunterricht, der die Förderung der Mehrsprachigkeit zum Ziel hat, braucht eine neue Didaktik – eine Didaktik der Mehrsprachigkeit. Diese geht von einem Verständnis des kombinierten und koordinierten Unterrichtens und Lernens von Sprachen aus» (Sauer & Saudan, 2008, S. 4). Durch den Aufbau und Ausbau von Sprachbewusstheit, Sprachvergleichen, Sprachreflexion und Sprachlernstrategien soll Mehrsprachigkeit gefördert werden.
Didaktik der Mehrsprachigkeit
Sprachen sollen nicht länger isoliert und nebeneinander unterrichtet und gelernt werden, sondern integriert, im Bezug zu- und untereinander. Im deutschen Sprachraum gibt es inzwischen eine Vielzahl von Artikeln und Bücher zu den Themen Mehrsprachigkeit und Didaktik der Mehrsprachigkeit (vgl. u.a. Hufeisen & Gibson, 2003; Hutterli, Stotz & Zappatore, 2008; Jessner, 2006, 2008; Neuner, 2008; Wiater, 2006).
Grossenbacher et al. (2012) betonen drei Bereiche, die in den Lehrmaterialien zur Entwicklung von Mehrsprachigkeitskompetenzen besonders förderlich sind: 1. Sprachenübergreifender Unterricht, 2. Bewusstheit für Sprachen und Kulturen, 3. Inhalts- und Handlungsorientierung. Auf Letzteren wird nicht mehr eingegangen, da diesbezüglich bereits viel geschrieben und geforscht worden ist (vgl. u.a. TBL und CLIL) – bis heute jedoch meistens ohne Einbezug der Mehrsprachigkeitsdidaktik.
•Sprachenübergreifender Unterricht
Im Zentrum eines sprachenübergreifenden Unterrichts stehen Aspekte wie der Bau von Transferbrücken zwischen der Erstsprache und/oder Schulsprache, der ersten Fremdsprache und der zweiten Fremdsprache; Sprachvergleiche zur Bewusstmachung von Gemeinsamkeiten und von Unterschieden, sowie die Nutzung von Ressourcen wie zum Beispiel bereits gemachte Sprachlernerfahrungen. Hufeisens Faktorenmodell2 zeigt und beschreibt die Unterschiede zwischen dem Lernen einer ersten Fremdsprache und dem Lernen weiterer Fremdsprachen sehr anschaulich. Danach verfügen die Lernenden mit jeder weiteren Sprache über mehr Faktoren, das heisst, sie können mehr Ressourcen nutzen. Die Bewusstmachung benötigt jedoch bei vielen Lernenden eine Unterstützung seitens der Lehrpersonen, respektive der Lehr- und Lernmaterialien.
•Bewusstheit für Sprachen und Kulturen
Auch im Lehrplan Passepartout ist Bewusstheit für Sprachen und Kulturen einer der drei Kompetenzbereiche. Lernenden sollen kulturelle Erscheinungen in der eigenen und in der Kultur der Zielsprache bewusst werden. Eines der Ziele ist Neugierde, Offenheit und Wertschätzung der Lernenden zu wecken. Es bestehen bereits etliche Grundlagen, um an der Kompetenz Bewusstheit für Sprachen und Kulturen zu arbeiten (vgl. u.a. Beacco et al., 2010; Coste et al., 2009).
Erfahrungen mit der Umsetzung
Im Auftrag von Passepartout wurden ab dem Schuljahr 2009/2010 jährlich Praxistests der neuen Lehr- und Lernmaterialen in den Erprobungsklassen durchgeführt (siehe Webseite von Passepartout3). 2011/2012 wurden erstmals die neuen Lehrmaterialien für Englisch «New World» (Arnet-Clark et al., 2013) zusammen mit den Materialien Französisch «Mille feuilles» (Bertschy et al., 2011) untersucht. In Bezug auf die Umsetzung der DdM hielten die externen Evaluatoren fest, dass der Englischunterricht bereits teilweise nach Prinzipien der DdM stattfände, jedoch nur wenige Lehrpersonen die Brücken zum Französischunterricht schlagen würden. Dies wurde teilweise damit begründet, «dass nicht alle befragten Lehrpersonen auch Französisch unterrichten. Weiter werden von der Mehrheit der Lehrpersonen explizite Hinweise zum Französischlernen/-unterricht im Englischlehrmittel selbst als zu wenig präsent eingeschätzt» (Elmiger & Singh, 2012).
Diese Erkenntnisse der externen Evaluation entsprechen zu einem grossen Teil den Resultaten aus der Studie zur Wahrnehmung von Lehrpersonen bei der Umsetzung des Passepartout-Konzepts. Die Resultate der Studie (Schwab-Berger, 2015) zeigten auf, dass sich Lehrpersonen in erster Linie an den Planungsvorschlägen im Teacher’s Book zu «New World» orientiert hatten. Demzufolge drängt sich eine Analyse der New-World-Materialien auf, insbesondere hinsichtlich der Frage, wie diese Materialien den Passepartout-Lehrplan umsetzen, wenn Englisch als zweite Fremdsprache unterrichtet wird.
Als grösste Herausforderung bei der Umsetzung wurde von allen Lehrpersonen stets der Faktor Zeit aufgeführt – sei es, weil die Lehrpersonen keine Zeit zum Austausch mit KollegInnen hatten, sei es, weil nur zwei Wochenlektionen Englisch im Stundenplan zur Verfügung stehen und diese zwei Lektionen nur 10 Prozent des Pensums ausmachen. Ausserdem verwiesen die Lehrpersonen vor allem auf die äusserst späte Auslieferung der Lehrmaterialien. Das Teacher’s Book war erst während den Sommerferien erhältlich, so dass die Lehrpersonen kaum Zeit hatten, vor Beginn des neuen Schuljahrs einen ersten Überblick zu gewinnen. Zudem war es nicht möglich in den Passepartout-Weiterbildungskursen mit dem Material zu arbeiten, so dass auch in den Weiterbildungskursen kein Austausch über die neuen Lehr- und Lernmaterialien stattfinden konnte.
Die grösste Herausforderung der Umsetzung der DdM dürfte im Unterschied zwischen allgemeinen Lehrpersonen und Fachlehrpersonen liegen. Den GeneralistInnen fehlt oft die Zeit, dafür kennen sie die Französisch- und die Deutschlehrmittel. Sie können den Schülerinnen und Schülern somit helfen, die verschiedenen Sprachen zu integrieren und Verbindungen sowie Brücken zu schaffen. Fachlehrpersonen müssen sich demgegenüber zuerst mit den Lehr- und Lernmaterialien von Deutsch und Französisch intensiv auseinandersetzen. Es ist zu befürchten, dass dieser zusätzliche Aufwand nicht von allen in Angriff genommen wird. Ein regelmässiger Austausch mit den anderen Sprachlehrpersonen müsste deshalb einen fixen Platz im Pensum haben. Ohne einen regelmässigen Austausch und ohne sich intensiv mit den andern Sprachen auseinanderzusetzen, werden Sprachen wohl weiterhin isoliert und nebeneinander unterrichtet. Der Paradigmenwechsel vom mono- zum multilingualen Unterricht wird nicht stattfinden.
Eine weitere Herausforderung, die in den Erprobungsklassen nicht auftauchte und auch im Sprachenkonzept nicht beachtet wurde, war die Umstellung an vielen Schulen von Jahrgangs- auf Mehrjahrgangsklassen. Insbesondere im Kanton Bern wurden in den letzten Jahren viele Mehrjahrgangsklassen geschaffen, teils aus pädagogischen und teils aus organisatorischen Gründen. Die Lehrmittel «Mille Feuilles» und «New World» beruhen aber auf der Basis von Jahrgangsklassen. Fremdsprachenunterricht an Mehrjahrgangsklassen ist somit eine weitere Herausforderung für viele Lehrpersonen. Da besteht die Gefahr, dass die neuen fremdsprachendidaktischen Konzepte zur Nebensache werden.
Empfehlungen
Schulleitungen können aktiv dazu beitragen, dass Lehrpersonen Zeitgefässe erhalten, um in Professionellen Lerngemeinschaften (PLG) zu arbeiten. In PLGs erhalten Lehrpersonen Zeit, um ihre Arbeit zu reflektieren und mit anderen Lehrpersonen zusammenzuarbeiten, was ihren Unterricht stärken kann. Dies hat wiederum einen positiven Einfluss auf die Leistungen der Lernenden. Die SchülerInnen werden von Lehrpersonen unterrichtet, die das Wissen (savoir), die Fertigkeiten/Fähigkeiten (savoir-faire) und die Haltungen (savoir-être) haben, die für eine erfolgreiche Umsetzung der Didaktik der Mehrsprachigkeit notwendig sind.
Auf der Basis des Forschungsprojekts zum Thema «Fremdsprachen lehren und lernen in der Schule im Zeichen der Mehrsprachigkeit» des Instituts für Mehrsprachigkeit Fribourg/PH Zug (vgl. auch Sylvia Nadig in dieser Ausgabe) werden sicherlich weitere wertvolle Empfehlungen für die Umsetzung der DdM formuliert werden können.4
Reformen brauchen Zeit. Innere Reformen, die ein Abrücken von jahrzehntealten, gewohnten, zum Beispiel auch in der Verhaltenspsychologie verankerten Denkweisen verlangen, werden noch mehr Zeit benötigen, bis sie angekommen und umgesetzt sind. Geben wir den neuen fremdsprachendidaktischen Konzepten die nötige Zeit und die nötige Unterstützung!
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Susanna Schwab ist Dozentin für Englisch an der Pädagogischen Hochschule Bern, Institut Vorschulstufe und Primarstufe. Sie war und ist Mitglied verschiedener Arbeitsgruppen im Passepartout-Projekt.
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1 Mehr auf der Passepartout Website: http://www.passepartout-sprachen.ch/
2 Zum Faktorenmodell von Hufeisen vgl. u.a. Hufeisen/Gibson 2003, Hutterli, Stotz, & Zappatore, 2008.
3 http://www.passepartout-sprachen.ch/services/downloads/
4 Einige Themen wie zum Beispiel die Beurteilung werden in diesem Artikel nicht behandelt, da hier noch weitere Arbeiten notwendig sind – nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Einführung des Lehrplans 21 (vgl. auch Sylvia Nadig in dieser Ausgabe).
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Bibliographie
Arnet-Clark, I., Frank Schmid, S., Grimes, L., Ritter, G., & Rüdiger-Harper, J. (2013). New World – English as a second foreign language. Baar: Klett und Balmer AG.
Beacco, J. C., Byram, M., Cavalli, M., Coste, D., Egli Cuenat, M., Goullier, F., & Panthier, J. (2010). Guide for the development and implementation of curricula for plurilingual and intercultural education. Strasbourg: Council of Europe.
Bertschy, I., Grossenbacher, B., & Sauer, E. (2011). Mille feuilles. Bern: Schulverlag.
Coste, D., Moore, D., & Zarate, G. (2009). Plurilingual and pluricultural competence. Strasbourg: Council of Europe: Language Policy Division.
EDK. (2004). Sprachenunterricht in der obligatorischen Schule. Bern: EDK. http://edudoc.ch/record/30008/files/Sprachen_d.pdf
EDK. (2013). Faktenblatt – Fremdsprachenunterricht in der obligatorischen Schule. Bern: EDK. http://www.edudoc.ch/static/web/arbeiten/sprach_unterr/fktbl_sprachen_d.pdf
Elmiger, D., & Singh, L. (2012). Externe Evaluierung: Praxistest der Lehr- und Lernmittel für Englisch, Schuljahr 2011/2012. Irdp: Neuchatel.
Grossenbacher, B., Sauer, E., & Wolff, D. (2012). Neue fremdsprachendidaktische Konzepte. Bern: Schulverlag.
Hufeisen, B., & Gibson, M. (2003). Zur Interdependenz emotionaler und kognitiver Faktoren im Rahmen eines Modells zur Beschreibung sukzessiven multiplen Sprachenlernens. Bulletin VALS-ASLA, 78, 13-33.
Hutterli, S., Stotz, D., & Zappatore, D. (2008). Do you parlez andere lingue? Zürich: Pestalozzianum.
Jessner, U. (2006). Linguistic awareness in multilinguals. English as a third language. Edinburgh: Edinburgh University Press.
Jessner, U. (2008). Teaching third languages. Language Teaching, 41(1), 15-56.
Neuner, G. (2008). Developing synergies in learning foreign languages – implications for the plurilingual curriculum. Council of Europe. www.coe.int%2Ft%2Fdg4%2Flinguistic%2FSource%2FNEUNER-Amsterdam.doc&ei=fe13UaPwGcrQ7Aaz1oHwAw&usg=AFQjCNEwosxnlSvr7bjO7XuiuYxzS1Bx-w&bvm=bv.45580626,d.ZGU
Passepartout. (n. d.). Passepartout Projekt. http://passepartout-sprachen.ch/de.html
Sauer, E., & Saudan, V. (2008). Aspekte einer Didaktik der Mehrsprachigkeit. Vorschläge zur Begrifflichkeit. http://www.passepartout-sprachen.ch
Schwab-Berger, S. R. (2015). Teachers‘ perceptions of the implementation of a multilingual approach in language teaching. (Doctoral dissertation, Walden University, USA).http://scholarworks.waldenu.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1762&context=dissertations
Wiater, W. (2006). Didaktik der Mehrsprachigkeit. In: Wiater, W. (Hg.): Didaktik der Mehrsprachigkeit. Theoriegrundlagen und Praxismodelle. München: Ernst Vögel, 57-72.
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