
Tuesday, 15. October 2013, 1:01 138179889301Tue, 15 Oct 2013 01:01:33 +0100, Posted by admin1 in Heft 183, No Comments.
Blickwechsel
Mit knappen Streiflichtern auf eigene Erfahrungen sollen hier Impulse für eine Annäherung an die Pädagogik der Vielfalt gegeben werden.
Von Peter Wanzenried
Seit meinem Studienaufenthalt am «Institute for the Arts and Human Development» der Lesley University in Cambridge USA vor mehr als 20 Jahren ist es eines meiner zentralen Anliegen, Lernerfahrungen zu ermöglichen, die einen kleinen Beitrag zu einer Pädagogik der Vielfalt leisten. In der aktuellen Fachsprache: Diversitätskompetenz fördern.1
Einige Spuren dieser Erfahrungen möchte ich hier nachzeichnen, weil ich überzeugt bin, dass Grundhaltungen von Lehrpersonen unabdingbare Voraussetzung sind, damit institutionelle Rahmenbedingungen und didaktische Konzepte im Schulalltag greifen.
Das Fremde erfahren und reflektieren
Es war mein erster längerer Aufenthalt in der Fremde, damals. Nie hätte ich vorher gedacht, dass mich die USA faszinieren könnten, ich steckte voller Vorurteile. Und dann tauchten wir ein. Wir erlebten einen uns fremden Alltag. Die multikulturell zusammengesetzte Lerngruppe am Lesley College führte mich in engen Kontakt mit Menschen aus aller Welt. Geschichten erzählen, Musizieren, Theater spielen boten uns Gelegenheit, unsere unterschiedlichen Erfahrungshintergründe ins Spiel zu bringen und auszutauschen. Besonders eindrücklich waren für mich auch die Kontakte mit den «Native Americans». So bleibt mir unvergesslich, was ich im Canyon de Chelly von den Navajos gelernt habe:
«Wenn du ins Canyon de Chelly kommst, gelangst du in eine Heimat in doppeltem Sinne: in die individuelle Heimat der Navajos und in eine Heimat in weiterem, spirituellen Sinn. […] Viele Fremde versuchen, diese Erfahrung direkt in ihr eigenes Leben zu übertragen. Das gelingt nicht. […] Aber sie können trotzdem Werterlebnisse werden. […] Sie können vielleicht dem Ort mehr Bedeutung geben, den du Heimat nennst, wenn du dorthin zurückkehrst.2
Von zentraler Bedeutung war es für mich, all diese reichen Erfahrungen laufend zu reflektieren und sie mir so anzueignen. Solche Vertiefung erfordert Zeit und Geduld, oft auch eine entsprechende Aufgabenstellung. So habe ich damals meine Erfahrungen in poetischer Verdichtung zusammengefasst3:
Im Fremden
das Vertraute erkennen
immer wieder
Im Vertrauten
das Fremde suchen
immer wieder
Durch das Fremde hindurch
in die Tiefe blicken
und vertraut werden
Durch das Vertraute hindurch
in die Weite blicken
und fremd werden
Im Fremden vertraut
im Vertrauten fremd
immer wieder, immer wieder
beides!
Ein Musterbeispiel, wie solche Lernerfahrungen im Rahmen der Ausbildung und Weiterbildung von Lehrpersonen ermöglicht werden können, schildert Elisabeth Hösli in ihrer im Entstehen begriffenen Dissertation. Im Rahmen der PHZH führt sie seit Jahren Studienreisen in den Kosovo durch. Zentrale Elemente dieser Reisen sind neben Schulbesuchen und Besichtigungen einwöchige Aufenthalte in einer Gastfamilie und regelmässige Reflexionen mit gestalterischen Mitteln. Möglichst tiefes Eintauchen also einerseits und heraustretendes Distanznehmen andererseits. In den von ihr ausgewerteten Interviews mit Teilnehmenden wird deutlich, wie tief diese Erfahrungen gehen und wie nachhaltig sie wirken:
«Dort habe ich wirklich das Fremde gespürt, also das Nicht-wissen-können, was der andere denkt, was der andere meint. Eigentlich genau das, warum wir hier sind, eben um das Thema Migration zu erleben. Und das habe ich erlebt.»
«Und ich spürte da bis zum Schluss eine grosse Distanz und immer noch ein Fremdsein. Das hat mich auch sehr beschäftigt, darf ich fremd bleiben, auch weil, auch wenn ich Gast bin?»
«Und das Tagebuch war eigentlich die Person am Abend, wenn ich im Bett lag. Es war für mich die Person, der ich erzählte, was ich erlebt habe. […] Manchmal kam ich dann vielleicht wieder auf eine Erkenntnis mehr.»4
Von Erfahrungen des Fremdseins lesen
Einen zweiten Weg zur Erhöhung meiner Diversitätskompetenz sehe ich in meiner Lektüre. Es ist wohl kaum Zufall, dass ich immer wieder an Bücher gerate und von ihnen gefesselt werde, welche das Hin-und-her -gerissen-sein zwischen Heimat und Fremde thematisieren. Dazu nur einige Beispiele aus meiner aktuellen Sommerlektüre:
Gleich zu Ferienbeginn las ich «Die undankbare Fremde» von Irena Breznà. Eine schonungslose Abrechnung mit unserem Umgang mit den Fremden. Aber auch mit dem Verhaftetsein in der eigenen Herkunft. Und dann das langsame Herantasten an die Paradoxie von Heimat und Fremde: «Mein Hochseilakt bekam eine Richtung – das Denken hinter jedem Denken zu erforschen. Die vertraute Ganzheit hatte ich unwiederbringlich verloren, doch ich wurde fähig, ein Stückchen Vertrautheit in manch Unvertrautem zu entdecken. Ein neues Kleid würde ich mir zusammenschneidern, ein nie dagewesenes.» (S. 131)5 Berichte, die unter die Haut gehen.
Als Gegenstück gleich darauf ein älteres Buch von Lukas Hartmann: «Die Wölfe sind satt». Es erzählt vom schwierigen Umgang mit fremden Menschen im eigenen Land, von Männern, die keineswegs fremdenfeindlich sind, aber am herausfordernden Ernstfall scheitern. Drei kurze Geschichten mit Angeboten, mich zu identifizieren im Widerstreit zwischen meiner Absicht, Fremden zu helfen und meinem Reflex, für mich selbst zu sorgen. Ja, genau so widersprüchlich ist das eben.6
Darauf das neueste Buch von Alex Capus «Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer»7 Drei Biografien von Menschen unterwegs.»Wie alle Nomaden richteten sie sich in der Routine des Reisens häuslich ein. […] Das lange Umherziehen hatte sie weltgewandt und reiseklug gemacht, ihr Horizont umspannte die Welt. Aber sie waren wurzellos und bindungslos, und im Herzen ein wenig verkümmert. Und das schon in dritter Generation.» (S. 46/49) Voller hoher Ideale und dann so hart auf die Probe gestellt von den Ereignissen im Laufe des letzten Jahrhunderts. Auch hier wird eindrücklich nachvollziehbar, wie konfliktreich das Leben zwischen den Kulturen ist.
Und schliesslich sei mein Rückgriff auf ein Buch von Ilma Rakusa erwähnt. Seit ich «Mehr Meer» gelesen habe, sind für mich ihre Schilderungen von Abschied, Aufbruch, Ankunft als Grunderfahrungen jeder Migration exemplarisch. «Eigentlich waren wir immer am Packen. […] Wenn Mutter sich über den tiefen Kofferschlund beugte, war es soweit. … Noch waren wir nicht fort, aber auch nicht mehr da, und je länger das Packen dauerte, desto lähmender empfand ich es. Ich wurde ja auch nicht gefragt. Das Weggehen entschieden die andern. Die Eltern, die Umstände. Du kommst mit. Ich ging mit. Ins Unbekannte. Ins nächste Provisorium. Eine Kindheit lang. (S. 34 f.)8
Die Reihe liesse sich endlos weiterführen. Solche Geschichten helfen mir weit mehr, mich auf multikulturelle Auseinandersetzungen einzulassen als noch so belegte Analysen und politisch motivierte Postulate. Auch in der Auseinandersetzung mit solcher Lektüre liegen wohl Ansatzpunkte für entsprechende Ausbildungsmodule.
Multikulturelle Kunstprojekte
Eben komme ich von der Biennale di Venezia zurück. «Il Palazzo Enciclopedico» ist das diesjährige Thema. Und so werden dann aus unterschiedlichsten Perspektiven Blicke auf zentrale Themen unserer Welt geworfen. In den Pavillons der einzelnen Nationen ist diese Vielfalt mit Händen zu greifen. Jede Kultur stiftet ihren Beitrag zu einer ganzheitlichen Sicht. Die Werke der einzelnen Künstlerinnen und Künstler künden mit sehr verschiedenen Ausdruckformen von ihrer Sicht auf die Leiden und Hoffnungen unserer Zeit. Und dann ist da eine Besucherschar aus aller Welt. Leider habe ich es nicht gewagt, mit Menschen aus andern Ländern ins Gespräch zu kommen, hätte es mich doch wirklich interessiert, von ihren Eindrücken zu hören. Aber auf jeden Fall hat diese künstlerische Zusammenschau mir auch diesmal viele Denkanstösse gegeben, und meine Überzeugung genährt, dass die Künste in unserer globalisierten Welt einen bedeutsamen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis jenseits kommerzieller Interessen leisten könnten.
Wie intensiv der Austausch in Sprachen der Künste ist, erfahre ich immer wieder an den Treffen des internationalen Playback-Theater- Netzwerkes.
Gruppen aus aller Welt treffen sich regelmässig, um mit Formen des Improvisationstheaters vom Publikum erzählte Geschichten auf die Bühne zu bringen. Mein letztes Treffen 2011 in Frankfurt stand unter dem Thema «Playback Theater – Sozialer Dialog in der Welt des Umbruchs» und richtete den Blick explizit auf Vielfalt und Migration. In einem Workshop, geleitet von einer Gruppe aus Japan, erlebte ich zusammen mit Menschen aus Russland, Israel, Italien, Deutschland, Chile die spezifische Ausprägung dieser Theaterform auf dem kulturellen Hintergrund Japans. Aufführungen von Gruppen aus Finnland, New York, Kuba zeigten eine gros-se Bandbreite des Umganges mit erzählten Geschichten. Das alles war keinesfalls konfliktfrei. Wie dann aber Jonathan Fox, Gründer und geistiger Vater dieses Netzwerkes, diese Gegensätze und Auseinandersetzungen im Plenum mit humorvoller Distanz ansprechen, ernst nehmen und als unumgänglich auf dem Weg zur interkulturellen Verständigung einordnen konnte, war für mich ein unübertreffliches Beispiel von Diversitätskompetenz.9
Mit diesen knappen Streiflichtern auf meine eigenen Erfahrungen hoffe ich Impulse zu geben, wie wir der dringend notwendigen Pädagogik der Vielfalt in kleinen Schritten näher kommen könnten.
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1 Vgl. zur Klärung der Fachbegriffe und ihrer Hintergründe: C. Allemann-Ghionda (2013): Bildung für alle, Diversität und Inklusion: Internationale Perspektiven. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh.
2 Frei übersetzt aus einem Informationsblatt der Navajos.
3 Vgl. P. Wanzenried (2008): Unterrichten als Kunst. Zürich: Pestalozzianum. S. 28.
4 Aus der im Entstehen begriffenen Dissertation von E. Hösli, Zürich.
5 I. Breznà (2012): Die undankbare Fremde. Berlin: Galiani.
6 L. Harmann (1993): Die Wölfe sind satt. Zürich: Nagel und Kimche.
7 A. Capus (2013): Der Fälscher, die Spionion und der Bombenbauer. München: Hanser.
8 I. Rakusa (2011): Mehr Meer. Berlin: Bloomsbury.
9 Vgl. J. Fox (1994): Acts of Service. New Paltz: Tustala.
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Foto: Tim Toppik / photocase.com
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