Bildung und Migration aus ökonomischer Perspektive

Monday, 14. October 2013, 22:51 138179108310Mon, 14 Oct 2013 22:51:23 +0100, Posted by admin1 in Heft 183, No Comments.

Bildung und Migration aus ökonomischer Perspektive


Seit Ende der neunziger Jahre sind die EinwanderInnen immer besser qualifiziert. Welche Auswirkungen hat dies auf die Schweizer Volkswirtschaft und die Erfolgschancen von Einheimischen und MigrantInnen auf dem Arbeitsmarkt?

Von Thomas Ragni

Im Laufe der 90er Jahren hat ein tief greifender Bewusstseinswandel in der schweizerischen Migrationspolitik eingesetzt: Bis dahin waren hohe und sogar steigende Einwanderungs- und Grenzgängerzahlen (vgl. Überblick in Abbildung 1) zumindest sozial und ökonomisch – und sowohl auf Jobsucher- wie auf Jobanbieterseite – so lange akzeptiert, wie sie die relative Position auf dem Arbeitsmarkt des Grossteils der bereits ortsansässigen erwerbstätigen Bevölkerung zumindest nicht verschlechterte, in der Tendenz sogar verbesserte. Diese Personen waren die «WachstumsgewinnerInnen».
Nur aus «kulturellen» oder «identitätspolitischen» Gründen der sogenannten «Überfremdung» türmten sich einige Wellen des politischen Widerstandes auf. Die Koalition der IdentitätspolitikerInnen mit der Minderheit der einheimischen ökonomischen «WachstumsverliererInnen» fuhr allerdings in Abstimmungen stets, wenn auch zum Teil sehr knappe Niederlagen ein. Als öffentlich bekundete Manifestation blieb Fremdenfeindlichkeit ein episodisches Phänomen. Sie war die meiste Zeit in der «Schweigespirale» der öffentlichen Tabuisierung gefangen, kanalisierte sich höchstens in symbolisch eng definierten (und damit wirtschaftlich belanglosen) Grenzen gegen «Asylanten» und «kriminelle Ausländer». Der Grund waren die letztlich dominierenden realen ökonomischen Interessenlagen. Denn das Phänomen der «Unterschichtung» erlaubte den Unternehmen die Rekrutierung «billiger Arbeitskräfte» – mit entsprechend schlechter Ausbildung und/oder schlechten Sprachkenntnissen – und bewirkte bei den einheimischen Erwerbstätigen, dass ihre Lohn- und Karriereerwartungen und die allgemeinen Beschäftigungsbedingungen nicht gefährdet wurden. Sie konnten diesbezüglich unattraktive und prekäre Jobs verlassen oder vermeiden, weil es auch für tiefer qualifizierte Einheimische damals noch genügend reguläre Jobs (mit unbefristeter Anstellung und anständigen Löhnen) gab.

Der übergeordnete Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung und ihre Interpretation
Doch seit Anfang der 90er Jahre setzte eine hartnäckige BIP-pro-Kopf-«Wachstums-schwäche» ein, die auch die Erwerbslosenzahlen säkular und nicht bloss konjunkturell auf vorher nie gekannte Ausmasse ansteigen liessen. Der in dieser Zeit dominant werdende «neoliberale» Diskurs hatte rasch zahlreiche plausibel tönende Diagnosen des «Staatsversagens» bei der Hand, zum Beispiel den angeblich zu generösen Sozialstaat oder vom Staat protegierte, abgeschottete, überregulierte Märkte. Eine andere gängige und noch heute kolportierte Diagnose lautete1: Die Rekrutierung hauptsächlich tief qualifizierter Arbeitskräfte im Ausland hatte primär die binnenorientierte Wirtschaft satt und träge gemacht. Bei unbeschränkt verfügbarer billiger Arbeitskraft lohnten sich Investitionen in Effizienzsteigerung und Innovationsstrategien nicht mehr. Der Marktwettbewerb war entweder durch Subventionierung, Kartellisierung und kantonale Schutzwälle fast ganz ausgeschaltet, oder er degenerierte zur «Schlafmützenkonkurrenz». Das Ergebnis war «Strukturerhaltung» und eine chronisch gewordene Wertschöpfungsschwäche. Panik! Die Schweiz drohte im «globalen Standortwettbewerb» schleichend, aber unumkehrbar zurückzufallen.2
Scheinbar war diese Analyse zutreffend, denn die neoliberalen Rezepte begannen zu wirken: Ab Ende der 90er Jahren setzte weitgehend unabhängig von der Konjunktur ein ungeahnt langfristiger und kräftiger Wirtschaftsboom ein, der sowohl die Stellensuchendenquote3 wieder deutlich absinken liess (wenn auch nicht mehr auf das extrem tiefe Niveau der 80er Jahre, vgl. Abbildung 2) als auch die Netto-Immigration, die Grenzgängerzahlen und die Erwerbstätigkeit der bisher ortsansässigen Bevölkerung wieder anschwellen liess (vgl. Abbildung 1). Die Konjunkturentwicklung hatte lediglich einen zeitweise etwas dämpfenden beziehungsweise verstärkenden Einfluss. Und man vermied es in der Folge auch sorgfältig, nur noch niedrig und schlecht qualifizierte Billig-Arbeitskräfte ins Land zu locken.

Grafik 1.Verlauf der Zahl der bisher ortsansässigen Erwerbstätigen, der Grenzgänger und der Netto-Migration

Grafik 2

Doch Zahlen «sprechen» bekanntlich nie für sich allein. Nicht ins neoliberale Interpretationsrater passt zum Beispiel, dass das Freizügigkeitsabkommen (FZA) der Schweiz mit der EU keinen (unmittelbar) kausalen Einfluss gehabt zu haben scheint, weil es erst 2002 in Kraft gesetzt wurde und danach bis 2008 noch zahlreiche Übergangsregeln kannte. Ausserdem gab es bereits in den 80er Jahren eine starke Netto-Immigration und kräftige Grenzgängerflüsse, die beide erst in der Stagnationsphase bis Mitte 90er Jahren immer mehr abflauten. Und alle übrigen «Deregulierungs»- und Privatisierungsschritte – unabhängig davon, wie man politisch dazu stehen mag – verliefen viel zu zögerlich und zu halbherzig, als dass sie den geschilderten massiven Boom ab Ende der 90er Jahre massgeblich zu erklären vermöchten. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass ab dann zwar immer besser qualifizierte Ausländer ins Land kamen, aber die bisher ortsansässige Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter fast genauso schnell immer besser ausgebildet wurde (vgl. dazu das folgende Kapitel).
Welche Erklärungsfaktoren könnten stattdessen eine Rolle gespielt haben?
(a) Die Notenbank gab Mitte der 90er Jahre ihre dogmatische, von «Inflationsängsten» getriebene Geldmengensteuerung (des sogenannten «Monetarismus») auf, die zeitweise extrem hohe Zinsen verursachte, und ging über zu einer pragmatischen Zinssteuerung (und inoffiziell auch zu einer Wechselkurssteuerung – wie sie heute ja offiziell gilt). Das half dem Exportsektor ganz gehörig auf die Sprünge.
(b) Weiter unterstützt wurde der Exportanstieg durch die lohnkostendämpfenden Effekte, die sich in der Stagnationsphase bis Mitte der 90er Jahre auf dem schon immer «freien» schweizerischen Arbeitsmarkt (ohne Mindestlöhne, ohne Kündigungsschutz) rasch durchsetzen konnten. Die durchschnittliche Stundenlohnentwicklung für den (sehr breit definierten) «Mittelstand» (der abhängig beschäftigten Normalverdiener) stagnierte inflationsbereinigt auch noch lange während der ab Ende der 90er Jahre einsetzenden Boomzeiten (vgl. Abbildung 3).

Grafik 3

Grafik 4

(c) Weiter verstärkt wurde diese Umverteilung zulasten des «breiten Mittelstandes»4 auch noch durch den offiziell propagierten «Steuersenkungswettbewerb», der als neoliberales Rezept zur Abmilderung der «Staatsversagens» angepriesen wurde, manchmal sogar als «mittelstandsfreundliche Politik» verkauft wurde.
Die Faktoren (b) und (c) sind zwar sehr nützlich für eine sogenannte «angebotsorientierte» Wirtschaftspolitik, weil sie wichtige Kosten der Unternehmen senken helfen. Eine solche Politik kann aber gesamtwirtschaftlich nicht nachhaltig sein, weil sie mit der Zeit die Binnennachfrage zu stark schwächt. Wenn dann mitten im Konjunkturabschwung der Staat auch noch zum Mittel der Budgetsanierung greift, also seine Ausgaben einschränkt (was in der Schweiz immer wieder passiert ist), kommt es schliesslich zur akuten Gefahr einer Deflation, die die inhärente Tendenz in sich trägt, sich zu verewigen. Ist sie einmal da, helfen auch explodierende Staatsausgaben und -schulden nichts mehr. Es ist dann zu spät. Japan kann davon ein Lied singen.
Wieso ist wie Japan nicht auch die ähnlich reiche und sparwütige Schweiz in diese Falle getappt? Hat die Schweiz nicht so starr wie Japan die öffentlichen Budgets in der Krise gekürzt und weniger fanatisch die «Inflation» bekämpft? Nein, im Gegenteil, die Schweiz hat sich diesbezüglich viel weniger pragmatisch als Japan verhalten und sehr «linientreu» bis dogmatisch-stur die neoliberale Heilslehre vertreten. Hat die Schweiz viel umfangreicher «dereguliert» als Japan? Nein, auch nicht. In der Schweiz sind die beharrenden Lobbyinteressen genauso mächtig wie in Japan. Doch im Unterschied zu Japan ist die Schweiz keine echte Insel, sondern nur eine imaginäre Insel der Glückseligen. Spätestens nach dem Immobiliencrash Ende der 80er Jahre war die Gefahr deflationär wirkender struktureller Nachfragelücken akut geworden. Die ab dann regelmässig wiederzukehren drohenden Nachfragelücken wurden in der Schweiz in erster Linie durch «spontan» immer wieder kräftig einsetzende Netto-Immigrationsschübe aufgefüllt, in zweiter Linie auch durch «spontan» anschwellende Grenzgängerströme und spiegelbildlich durch den Zuzug steuerprivilegierter reicher Ausländer. Das FZA als Reflex einer politischen Planung hatte dagegen, wie erwähnt, wenig bis keine eigenständige Wirkung entfaltet. Der kräftige «spontane» zahlenmässige Anstieg der erwerbstätigen Bevölkerung (vgl. Abbildung 2) verhinderte umgekehrt, dass in der Schweiz die Reallöhne schon bald wieder spürbar anstiegen. Trotz anhaltendem Boom und trotz immer besserem Ausbildungsstand der einwandernden Personen hinkten die stagnierenden Reallöhne weiter der zwar tendenziell sinkenden, aber im gleitenden Durchschnitt stets im positiven Bereich bleibenden Arbeitsproduktivitätsentwicklung hinterher (vgl. Abbildung 5). Darum sank die um die Spitzenmanagerlöhne «bereinigte» Lohnquote am BIP kontinuierlich ab.5 Bei ungefähr konstant bleibender relativer Lohnverteilung und bei stagnierenden Reallöhnen im Spektrum der «Normalverdiener» hätte es trotz kräftig zunehmender Erwerbsbevölkerung zu einer allmählich einsetzenden Nachfrageschwäche kommen müssen, zumal auch die strukturell viel zu hohe durchschnittliche Sparquote nicht abnahm. Doch der immer weiter steigende Exportüberschuss (beziehungsweise die steigende Netto-Auslandsnachfrage) hat dies – ganz ähnlich wie in Deutschland – bislang verhindert. Der spiegelbildliche inländische Sparüberschuss ging in den Nettokapitalexport (z.B. in Direktinvestitionen im Ausland und in den Kauf ausländischer Wertpapiere). In jüngerer Zeit (seit der Finanzkrise) wird ein wachsender Anteil davon in liquiden Mitteln (un-) freiwillig gehortet. Die Grossunternehmen und Banken schwimmen immer mehr im Geld – und wissen immer weniger damit anzufangen. (Darum ist die Gefahr der Bildung von immer wieder neuen Vermögenspreisblasen keineswegs gebannt, und auch nicht jene der «Währungskrisen» beim Platzen der Blasen.) Weil die Kapitalverleiher noch immer «risikoscheu» sind, leiden trotz immer grösserer Geldschwemme die kleinen und mittleren Betriebe vor allem in den südlichen Krisenländern unter einer sich verschärfenden Kreditverknappung. Eine solche Situation nennt J. M. Keynes eine «Liquiditätsfalle».

2. Einige statistische Bilder zu Trends und Trendveränderungen bei den Bildungsabschlüssen und der Arbeitsproduktivität und ihre möglichen Erklärungen
Zunächst eine Grafik, die in einem Vergleich des inländischen Bildungs-«Outputs» mit der «bildungsbezogenen» Migrationspolitik die wesentliche «Botschaft» der seit den 90er Jahren verfolgten Bildungspolitik auf recht klare und einfache Weise zum Ausdruck bringt:
Im Jahr 1993 beginnt die Tertiärausbildungsquote der dauerhaft ansässigen erwerbstätigen ImmigrantInnen aus den EU-27- und EFTA-Staaten erstmals jene der bisher ortsansässigen Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 64 Jahren zu übertreffen. Danach steigt sie bis 1997 sprunghaft an. Die Ära der «Unterschichtung» ist spätestens ab dann hinsichtlich des durchschnittlichen Bildungsstandes endgültig passé.6 Ab 1997 bleibt der Niveauunterschied in der Tertiärausbildungsquote zwischen den beiden betrachteten Gruppen im mehrjährig gemittelten Vergleich etwa konstant. Das impliziert, dass der Trendanstieg der beiden Tertiärausbildungsquoten über die Zeit betrachtet etwa parallel verläuft.7

Für die Mainstream-Ökonomie der «neoklassischen» Humankapitaltheorie müsste nun der folgende Umstand ein beunruhigendes grosses Rätsel sein: Die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität hat säkular in den letzten 20 Jahren im besten Fall stagniert (das heisst ist auf einem positiven Wert ungefähr konstant geblieben) beziehungsweise ist im Langfristtrend leicht zurückgegangen, während gleichzeitig der durchschnittliche Ausbildungsstand sowohl der ortsansässigen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter als auch jener der Grenzgänger als auch jener der MigrantInnen markant zugenommen hat. Dieser eklatante Widerspruch der Empirie mit der Humankapitaltheorie ist aber anscheinend noch niemandem «aufgefallen».
Um die langfristige Entwicklungen hervorzuheben, sind in Abbildung 5 zusätzlich mit gestrichelten Linien die entsprechenden Trendverläufe eingezeichnet worden. Sie verdeutlichen die hier interessierende «Hauptbotschaft»: Während die beiden Tertiärausbildungsquoten der ortsansässigen In- und Ausländer langfristig kräftig angezogen haben, ist das Wachstum der Arbeitsproduktivität – über die Konjunkturbewegungen hinweg betrachtet – im leichten Sinkflug begriffen.

Grafik 5

Dieser empirische Befund stellt nicht nur die Glaubenssätze der Humankapitaltheorie in Frage, er dementiert ausserdem die oben nacherzählte plausibel tönende neoliberale Story, wonach die bis Mitte der 90er Jahre verfolgte Strategie der «Unterschichtung» mit schlecht qualifizierten Immigranten und Grenzgängern ein wichtiger Grund gewesen sei für die schleichend eingetretene säkulare Pro-Kopf-Wertschöpfungsschwäche der CH-Wirtschaft. Denn diese Schwäche hält unvermindert an, während die «Unterschichtung» zumindest hinsichtlich des Ausbildungsstands der ImmigrantInnen und Grenzgänger längst der Geschichte angehört.

3. Ist nach dem Ende der bildungsmässigen «Unterschichtung» auch die Ära der berufsbezogenen «Unterschichtung» zu Ende gegangen?
Um nebst der bildungsmässigen auch die berufsbezogene «Unterschichtung» zu untersuchen, eignet sich eine grob zusammenfassende Gliederung der standardisierten Berufshauptgruppen8 in die drei Segmente der «Karrierejobs» für Hochqualifizierte, der «unattraktiven (bis prekären) Jobs» für Niedrigqualifizierte und Angelernte, und in die Restkategorie der «normalen Jobs». Sind die In- und Ausländer (mit ständigem Schweizer Wohnsitz) in diesen drei Proxy-Kategorien für segmentierte «Job-Niveaus» (hinsichtlich Lohneinkommen, Arbeitsbedingungen, Sozialprestige…) über- beziehungsweise unterrepräsentiert, gibt dies einen indirekten Hinweis darauf, ob In- und Ausländer berufsbezogen privilegiert beziehungsweise diskriminiert sind. In Kombination mit dem durchschnittlichen Ausbildungsstand der In- und Ausländer ist das Ausmass der «Über-/Unterqualifikation» je Berufssegment ein Indiz der «Diskriminierung» / der «Privilegierung» der beiden Gruppen.
Es sind sehr klare Indizien einer «Überrepräsentation» der AusländerInnen (insbesondere der ImmigrantInnen) bei den relativ unattraktiven Jobs erkennbar. Spiegelbildlich sind die SchweizerInnen bei den Karriere- und Prestigejobs überrepräsentiert. Diese Diskrepanz akzentuiert sich noch, wenn die klar unterdurchschnittliche Tertiärausbildungsquote für die bisher ortsansässigen Erwerbstätigen mitbedacht wird. Die «Unterqualifizierung» der SchweizerInnen liefert ein deutliches Indiz für ihre Privilegierung. Und spiegelbildlich ist die «Überqualifizierung» der AusländerInnen ein deutliches Indiz für ihre Diskriminierung.

Grafik 6

Bei den Personen aus dem EU27- und EFTA-Raum ist die relative «Überqualifikation» 2003 im Vergleich zu den SchweizerInnen nur noch leicht vorhanden und 2012 praktisch verschwunden. Umso massiver zeigen sich diese Indizien für die ImmigrantInnen aus den Drittstaaten. Dazwischen liegen die Werte für die GrenzgängerInnen.
Zur «Diskriminierung» von (immigrierenden) AusländerInnen sind abschliessend einige zu Vorsicht gebietende Differenzierungen und Relativierungen anzufügen:
Die einwandernden Personen werden nicht systematisch «mit falschen Versprechen» in die Schweiz gelockt, sondern sie kommen freiwillig und mit im Durchschnitt realistischen Erwartungen in die Schweiz. Ihre «Outside option» wäre, gar nicht erst einzuwandern. Wenn also eine «Diskriminierung» besteht, dann existiert sie nur in Bezug auf die inländischen Verhältnisse, nicht auch in Bezug auf das Herkunftsland. Weil eine solche Art von «Diskriminierung» nicht im strikten Sinn auf «Alternativlosigkeit» beruht, kann sie auch nicht der Ausdruck von «Unfreiwilligkeit» sein (zum Beispiel durch «Ausnützen einer Zwangslage» etc.).9 Der Begriff der «Diskriminierung» beinhaltet im konkreten Fall daher nur einen objektiven Befund, der rein rückschliessend aus der empirischen Datenlage gewonnen worden ist. Die «Betroffenen» selber müssen subjektiv durchaus nicht den Eindruck gewinnen, in der Schweiz «diskriminiert» zu werden. Im Gegenteil, sehr viele Einwanderer sind glücklich und dankbar, in der Schweiz eine Beschäftigung gefunden zu haben. Zudem verdienen sie «gutes Geld», das dank attraktiver Wechselkurse in ihrem Heimatland sehr viel mehr Kaufkraft als in der Schweiz besitzt.
Dennoch bleibt der objektive Befund der «Diskriminierung» immigrierender Personen unzweifelhaft bestehen. – Oder handelt es sich bloss um ein «statistisches Artefakt»? In diese Richtung argumentiert, wer erstens vermutet oder unterstellt, die symbolisch «gleich lautenden Bildungstitel» würden im Inland systematisch mehr reale Bildungsinvestitionen beinhalten als im Ausland. (Die «Verwässerung» der Bildungstitel sei dort stärker fortgeschritten.) Oder es wird zweitens in Anschlag gebracht, dass einwandernde Personen noch eine lange Zeit die Umgebungssprache nicht oder nur unvollkommen beherrschten, was ihre durchschnittliche Produktivität im Vergleich zu ortsansässigen Personen je Bildungsniveau tiefer ausfallen lässt. Drittens schliesslich sind einwanderungswillige Personen kein repräsentatives Abbild der ausländischen arbeitsfähigen Bevölkerung, sondern eine selektiv nach gewissen Eigenschaften verzerrte Subgruppe. So ist etwa zu vermuten, dass wer weniger familiäre Verpflichtungen hat, mobiler und auswanderungswilliger ist. Nicht alle diese die Auswanderungswilligkeit beeinflussenden Eigenschaften müssen ohne negativen Einfluss auf die je individuelle Produktivität sein. «Vereinsamung» schlägt zum Beispiel auch auf die Arbeitsmoral. Allerdings könnten solche selektiv überrepräsentierten Eigenschaften auch einen systematisch positiven Effekt entfalten (zum Beispiel die «Abenteuerlust»). Doch letztlich sind solche Überlegungen hochspekulativ.

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1 Speziell zur Migrationsthematik vgl. zum Beispiel diverse Beiträge in: «Die Volkswirtschaft» 5-2009.
2 Ein typisch alarmistischer Buchtitel jener Zeit hiess: S. Borner, A. Brunetti, T. Straubhaar (Hg.): Schweiz AG: Vom Sonderfall zum Sanierungsfall, Zürich 1990. – Auf die nahe liegende Idee, dass säkulare «Wachstumsschwäche» ein purer Wohlstandseffekt allmählicher Saturierung sein könnte, war damals niemand gekommen aus der Gilde der sich öffentlich Gehör verschaffenden «Wirtschaftsexperten». Linke und Gewerkschaften vergruben sich defensiv in die Schützengräben, um wenigstens die defensiven Verteidigungslinie «gegen den Abbau des Service public» halten zu können. Den angeblichen «harten Sachargumenten» der Neoliberalen hatten sie nur wehleidige Betroffenheitslyrik und die Leerformel der «sozialen Gerechtigkeit» entgegenzusetzen.
3 Ich habe hier nicht die «offizielle» Stellensuchendenquote berechnet (Stellensuchende in % der ortsansässigen Bevölkerung), und auch nicht die «bereinigte» Quote (in % der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter), sondern die meist vermiedene «ehrliche» Quote (in % der erwerbstätigen Bevölkerung). Dadurch verändern sich aber nur die Niveaus der Prozentzahlen nach oben, doch der hier interessierende relative zeitliche Verlauf (der Dauer und Intensität der Auf- und Abstiege) bleibt sich gleich.
4 Und zugunsten der unverteilten Unternehmensgewinne, der versteckt ausgeschütteten Unternehmensgewinne in Form von Managerbezügen (vgl. Fussnote 5), und der offen ausgeschütteten Unternehmensgewinne für die Kapitalanleger…
5 Dabei handelt es sich, sauber funktional definiert, sowieso gros-senteils nicht um echte «Löhne». Wird die Lohnhöhe nicht einfach als Stundenfixum festgesetzt oder an selbst beeinflussbare (betriebsintern steuerbare) Effort- oder andere Indikatoren der Input-«Leistung» (der betrieblichen Produktionsfunktion) gekoppelt (im Extremfall beim «Akkordlohn»), sondern wird das «Arbeits»-einkommen mehr oder weniger stark abhängig gemacht vom unwägbaren Markterfolg der Unternehmung, dann handelt es sich um einen funktional definierten Gewinnanteil. Das «unternehmerische Risiko» wird durch den buchhalterisch residual definierten Gewinn abgebildet, und dieses Risiko müssen die «Residual claimants» übernehmen. Im Kapitalismus sollten das «eigentlich» die Eigentümer (die Eigenkapitalgeber) der Unternehmung sein. Bei am Marktergebnis gekoppelten Einkommensbestandteilen (Boni und ähnliches) geht das unternehmerische Risiko jedoch teilweise an die rechtlich definierten «Angestellten» oder «abhängig Beschäftigten» über. Weil vor allem die «Spitzenverdiener» aufgrund ihres Wohlstands dieses Risiko zu tragen fähig sind (das ist ein sogenannte Vermögenseffekt), sind sie auch bereit, es zu übernehmen. Denn während mit steigendem Vermögen ihre «Risikoaversion» immer mehr abnimmt, steigt die «Risikoprämie» umso mehr, je grösser der selber übernommene Anteil des unternehmerischen Risikos ist.
6 Das bedeutet aber nicht, dass ImmigrantInnen je Ausbildungsstufe ab dann «automatisch» nicht mehr diskriminiert würden hinsichtlich der Lohn- und Anstellungsbedingungen. Vgl. Abbildung 6.
7 Leider lässt es sich aus Gründen der statistischen Datenlage nicht vermeiden, dass in der Gruppe der inländischen Bevölkerung mit Tertiärausbildung im Alter zwischen 25 und 64 auch die Gruppe der in der Schweiz dauerhaft erwerbstätigen Immigrantinnen mit Tertiärausbildung aus dem EU27-EFTA-Raum mitenthalten ist. Dennoch ist die geschilderte Parallelität der Trendentwicklung der beiden Tertiärausbildungsquoten deswegen jedoch kein pures Artefakt, weil die zweite Gruppe (2011 rund 40000 Personen) sehr viel kleiner ist als die letztere (2011 rund 1.65 Mio. Personen).
8 Führungskräfte / Akademische Berufe / Techniker und gleichrangige Berufe / Bürokräfte und verwandte Berufe / Dienstleistungsberufe und Verkäufer / Fachkräfte in Land- und Forstwirtschaft / Handwerks- und verwandte Berufe / Anlagen- und Maschinenbediener und Montierer / Hilfsarbeitskräfte (gemäss ISCO-08-Standard)
9 «Unfreiwilligkeit» ist das Definitionsmerkmal für einen «prekären Job». Die einzige «Alternative» wäre «Beschäftigungslosigkeit», so dass im Erwerbsleben beziehungsweise auf dem Arbeitsmarkt keine Alternative existiert. Das «beidseits freiwillige eingegangene Arbeitsvertragsverhältnis» ist eine rechtlich-liberale Illusion oder Fiktion geworden.

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Foto: SP-PIC – Fotolia.com

Abbildung 1: Quelle: 9. Observatoriumsbericht, SECO 2013; eigene Darstellung

Abbildung 2: Quelle: BFS, SECO; eigene Darstellung und Berechnung

Abbildung 3: Quelle: LSE, BFS; eigene Berechnung und Darstellung

Abbildung 4: Quelle: 9. Observatoriumsbericht, SECO 2013 / BFS 2013 / Education at a glance 2013, OECD; eigene Darstellung und Berechnung

Abbildung 5: Quelle: 9. Observatoriumsbericht, SECO 2013 / BFS 2013 / Education at a glance 2013, OECD; eigene Darstellung und Berechnung

Abbildung 6: Quelle: 9. Observatoriumsbericht, SECO 2013; eigene Berechnungen und Erläuterungen

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