Thursday, 30. January 2020, 22:45 158042431510Thu, 30 Jan 2020 22:45:15 +0100, Posted by admin1 in Heft 215, 0 Comments
vpod bildungspolitik 215
Gleichwertige Bildung für alle – Keine Diskriminierung von Geflüchteten!
Mehr zum Thema ...Gleichwertige Bildung für alle – Keine Diskriminierung von Geflüchteten!
Mehr zum Thema ...Bildung für Geflüchtete
Beiträge zur Fachtagung «Geflüchtete – Bildung, Integration und Emanzipation» vom 7. September in Bern.
Der VPOD engagiert sich für das Recht auf Bildung für alle Menschen.
Für die gleichwertige Bildung von Geflüchteten wird eine Kampagne lanciert.
04 Gleichwertige Bildung für alle – Keine Diskriminierung von Geflüchteten!
Die Forderungen des Positionspapiers.
08 Auch für Geflüchtete!
VPOD-Präsidentin und Grünen-Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber über die Umsetzung des Rechts auf Bildung für Geflüchtete.
09 Gegen die Ausschaffungsmaschinerie!
Die Umstrukturierung des Asylbereichs geht zu Lasten der Asylsuchenden.
11 Humanitäre Katastrophe und bürokratischer Unsinn
Zum Dubliner Übereinkommen und den entsprechenden Verordnungen.
13 Was braucht es für eine gelingende schulische Integration?
Über die Bedürfnisse von geflüchteten SchülerInnen und ihrer Lehrpersonen.
Pflichtlektion Zürich
17 – 20 Das Mitgliedermagazin der Sektion Zürich Lehrberufe
Bildung für Geflüchtete II
21 Das Konstrukt des «spät zugewanderten» Jugendlichen
Defizitorientierter Diskurs und jugendliche Gegenstrategien.
25 Solidarität ist unentbehrlich
Engagement im Spannungsfeld von Gratisarbeit und politischem Widerstand.
27 Bessere Chancen schaffen
Für eine erfolgreiche Ausbildung sind erst einmal Verbesserungen bei den Integrationsangeboten nötig.
29 Plädoyer für das Zuhören
Ergebnisse des Workshops «Wie kann soziale Arbeit den Zugang zum Lernen verbessern?».
31 Kritik und Engagement ist nötig
Die Grussbotschaft der Berner Bildungs- und Kulturdirektorin Christine Häsler.
Lehrberufe Bern
32 Regionalteil Bern
Aktuell
33 Der Fuchs ruft NEIN
Das neue Kinderbuch von Silvia Hüsler.
35 Reclaim Democracy!
Ein Kongress vom 27. bis 29. Februar in Zürich.
Basel Lehrberufe
34 – 35 Regionalteil beider Basel
Impressum
Redaktion / Koordinationsstelle
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Einzelheft: Fr. 8.–
Kollektivabonnement: Sektion ZH Lehrberufe;
Lehrberufsgruppen AG, BL, BE (ohne Biel), LU, SG.
Satz: erfasst auf Macintosh
Layout: Sarah Maria Lang, Brooklyn
Titelseite Foto: Florian Thalmann
Druck: Ropress, Zürich
ISSN: 1664-5960
Erscheint fünf Mal jährlich
Redaktionsschluss Heft 216:
6. April 2020
Auflage Heft 215: 6500 Exemplare
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PC 80 – 69140 – 0, vpod bildungspolitik, Zürich
Inserate: Gemäss Tarif 2011; die Redaktion kann die Aufnahme eines Inserates ablehnen.
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Verantwortlich im Sinne des Presserechts
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Redaktionsgruppe
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Beteiligt an Heft 215
Heiner Busch, Réjane Fauser, Hanna Gerig, Christine Häsler, Marianne Hochuli, Amanda Ioset, Bettina Looser, Urs Loppacher, Kathrin Oester, Katharina Prelicz-Huber, Peter Schmidheiny, Yvonne Tremp, Markus Truniger
Foto: Florian Thalmann
Mehr zum Thema ...Das Engagement des Solinetzes für Geflüchtete bewegt sich im Spannungsfeld von unbezahlter Übernahme staatlicher Aufgaben und politischem Widerstand.
Von Hanna Gerig
Im weihnachtlichen Newsletter schwärmt das Solinetz: «Das Solinetz ist aus dem Kanton Zürich nicht mehr wegzudenken. Unsere zahlreichen Projekte gehören für viele Geflüchtete zu den wenigen sozialen Räumen, in denen sie willkommen sind, teilhaben und mitwirken können.» Vielleicht tönt das ein bisschen nach Werbesprech, aber tatsächlich sind die über zwanzig verschiedenen Deutschkurse des Solinetzes für viele Geflüchtete unentbehrlich. Nicht wenige sagen, dass sie nur dank Deutschkursen wie denjenigen des Solinetzes oder der Autonomen Schule Zürich Deutsch gelernt haben – oft noch bevor sie ihren Asylentscheid erhielten. Doch was bedeutet es, wenn Solinetz-Projekte «nicht mehr wegzudenken» sind? Anscheinend füllen Projekte wie diejenigen des Solinetzes eine wichtige Lücke.
Grundrechte verwirklichen
Das Recht auf Teilhabe und das Recht auf Bildung sind – so die Position des Solinetzes – grundlegende Rechte für alle, die hier ankommen und leben, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus und ihrem Alter. Gute Kenntnisse der hiesigen Sprache Deutsch erleichtern die Orientierung und den Aufbau neuer sozialer Kontakte, sie ermöglichen Selbständigkeit, später den Einstieg in den Beruf und sind somit für gesellschaftliche Teilhabe wesentlich. Viele Gemeinden respektive die zuständigen Betreuungsorganisationen ermöglichen den geflüchteten Menschen trotzdem keinen – oder nur einen ungenügenden – Zugang zu Deutschkursen. Weil das Recht auf Bildung vom Staat nicht umgesetzt wird, haben Freiwillige des Solinetzes und Aktivist*innen anderer Organisationen bis heute ein sehr grosses Angebot an Kursen geschaffen. Das ist sehr erfreulich. Doch sollte man an dieser Stelle nun auch stutzig werden.
Spannungsfeld zwischen Gratisarbeit und Widerstand
«Angebot»? Ist das Solinetz eine Dienstleistungsorganisation geworden? Wie passt die Rede von «Angeboten» zum Selbstverständnis einer Organisation, die vor zehn Jahren als politische Bewegung entstanden ist und sich bis heute als solche versteht?
Freiwilligenprojekte wie die Deutschkurse des Solinetzes übernehmen, ungewollt, teils staatliche Aufgaben. Die für «Integrationsdienstleistungen» zuständigen, staatlich finanzierten Stellen können sich so aus der Verantwortung stehlen – es gibt ja Freiwillige, die sich kümmern. Das ist definitiv nicht die Idee des Solinetzes. Es stellt sich also die Frage: Wie bewegt sich das Solinetz im Spannungsfeld zwischen Gratisarbeit für den Staat und politischem Widerstand? Warum sind wir weiterhin überzeugt, wichtige Arbeit zu leisten?
Kostenlose Angebote
Ein Beispiel für die «Angebotsseite»: Vor kurzem erhielt ich auf der Geschäftsstelle des Solinetzes ein Telefon. Die Sozialarbeiterin einer ländlichen Gemeinde, nennen wir sie Bächwil, kontaktierte mich und fragte nach einem B2-Kurs für eine Klientin von ihr. Sie habe die – hier sind sie wieder – «Angebote» des Solinetzes soeben auf dem Internet entdeckt. Ich staunte: Zuständig für die Betreuung von Asylsuchenden und zufällig erst per Google aufs Solinetz gestossen? Im Wissen um die Situation vieler Geflüchteter in ländlichen Gemeinden, die kaum Zugang zu Deutschkursen erhalten, pries ich der Frau am Telefon also unbedacht, gleichzeitig stolz, das Solinetz als Ort, wo alle Geflüchteten herzlich willkommen sind, Kontakte knüpfen und ohne Voranmeldung Deutsch lernen können. Meine grosszügige Geste galt natürlich ihrer «Klientin», die fast ohne Bildungs- oder angemessene Beschäftigungsmöglichkeiten in diesem kleinen Dorf ausharren musste – und dringend vom Solinetz erfahren sollte. Ich sagte der Sozialarbeiterin von Bächwil noch, dass es wichtig sei, dass die Gemeinde das ÖV-Abo bezahle, ohne welches unsere Projekte nicht erreichbar seien und schickte ihr unter dieser Voraussetzung die Kontakte der ehrenamtlichen Kursleiterinnen unserer B2-Kurse. Doch hoppla, das war unvorsichtig! Am nächsten Tag schrieb die engagierte Sozialarbeiterin sogleich erfreut zurück: «Besten Dank für das Schreiben. Gestern war meine Klientin bei mir in der Sprechstunde. Zurzeit sind bei ihr andere Themen pendent (Themen, die den Besuch eines Deutschkurses verhindern?) und den Deutschkurs müssen wir (‹wir› im Sinne von ‹ich und meine Klientin›?!) auf Frühling verschieben. Jedoch habe ich Ihre Daten auf die Übersichtsliste Deutschkurse unserer Gemeinde aufgenommen. In der Zukunft werde ich sicher einige Klientel von mir bei Ihnen anmelden.» Spätestens jetzt mussten meine Alarmglocken läuten. Ich musste meine allzu einladende Geste, welche die Gemeindemitarbeiterin logischerweise sofort als solche wahrgenommen hatte, zurücknehmen. Ich antwortete: «Mein erstes Mail war wohl missverständlich, entschuldigen Sie mich dafür! Ich möchte gerne anmerken, dass unsere Deutschkurse zwar für alle offen sind, da wir nicht möchten, dass Menschen der Zugang zu Bildung verwehrt bleibt, dass unsere Kurse aber NICHT die Integrationsdienstleistungen, die von den Gemeinden zu leisten sind, ersetzen! Insofern würden wir es – anstatt dass Sie unsere Kurse bei den Angeboten Ihrer Gemeinde aufführen – viel eher begrüssen, wenn Sie sich bei Ihrer Gemeinde dafür einsetzen, dass Ihre KlientInnen reguläre Kurse besuchen können – Kurse, die durch die Gelder für die Integrationsförderung finanziert werden.»
Hätte ich der Sozialarbeiterin auf ihre Anfrage hin besser gleich eine Absage erteilen sollen, mit dem Risiko, dass ihre Klientin das Solinetz nicht kennenlernt? Oder hätte ich sie nach dem Aufenthaltsstatus ihrer Klientin fragen sollen und dann abwägen? Sind unsere Projekte nicht offen für alle, ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus? Freuen wir uns beim Solinetz nicht, wenn unsere Projekte rege besucht werden und das Solinetz bekannt gemacht wird? Ein Dilemma.
Das System bedienen
Ein Stück weit sind wir für die beschriebene Entwicklung – die Anfrage aus Bächwil sei ein Beispiel für den Widerspruch, den wir erzeugen – selbst verantwortlich. Wir bauen das Angebot stetig aus, präsentieren die Deutschkurse übersichtlich auf der Homepage. Wäre es angesichts dieses Dilemmas besser, wenn wir unser Engagement bleiben liessen?
Alle, die sich mit und für Menschen in prekären Situationen politisch engagieren, kennen die Spannung zwischen Einzelfallhilfe (Gratisarbeit für den Staat) und politischem Widerstand. Man muss sich ein Stück weit auf das System einlassen, es «bedienen». Das ist die Realität, die fast alle einholt.
Auf den Punkt gebracht
Deutschunterricht für Personen, die «Integrationsdienstleistungen» von staatlicher Seite erhalten sollten, ist Gratisarbeit für den Staat. Erst Deutschunterricht für Personen, die kein Aufenthalts- oder Arbeitsrecht haben, ist eine Form von politischem Widerstand, denn er durchbricht die staatlich gewollte Isolation. Aus diesem Spannungsfeld können wir uns nicht lösen, wenn wir nicht ebenfalls nach Aufenthaltsstatus unterscheiden wollen. Unser Engagement bleibt immer beides: Dilemma und Chance. Die Spannung des Dilemmas muss man aushalten. Die Chance liegt im Widerstand.
Widerstand
Viele Geflüchtete, die an Projekten des Solinetzes teilnehmen, haben kein Aufenthaltsrecht. Ihr Asylgesuch wurde abgelehnt. In ihrem Fall übernimmt das Solinetz keine staatliche Aufgabe, wenn es Bildungsorte schafft. Abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers haben kein Anrecht auf sogenannte «Integrationsdienstleistungen». Wenn man illegalisierte Menschen unterstützt, bewegt man sich sogar in einem legalen Graubereich. Von staatlicher Seite her wird viel dafür getan, dass das Leben von abgewiesenen Asylsuchenden in der Schweiz unerträglich wird: Abgelegene, schäbige Unterkünfte, zu knappes Unterstützungsgeld, Anwesenheits- und Zimmerkontrollen, häufige Polizeipräsenz, Bussen bis hin zu Gefängnisaufenthalten. Wenn sich freiwillig engagierte Leute (zum Beispiel mit Deutschkursen) dafür einsetzen, dass das Leben dieser Menschen ein bisschen erträglicher wird, dann läuft dies den genannten staatlichen «Bemühungen» diametral entgegen. Es ist kein Zufall, dass die Autonome Schule Zürich, die diese politische Dimension der selbstorganisierten Bildung öffentlich pointierter als das Solinetz zum Ausdruck bringt, mehrere Male gegen Polizeikontrollen in unmittelbarer Nähe ihres Hauses demonstrieren musste. (Anmerkung am Rande: Dass fleissige Deutschkursbesuche von illegalisierten MigrantInnen unter Umständen bei Härtefallgesuchen doch wieder belohnt werden, macht die Situation nur noch absurder.)
Jede Form der Begegnung, die Isolation durchbricht, bedeutet angesichts der krassen Isolierungstendenzen in der Asylpolitik Widerstand. Es reicht das gemeinsame Konjugieren von Verben: Ich bleibe, du bleibst, wir bleiben.
Uns ist es nicht egal
Dazu kommt noch etwas: In den Deutschkursen und den vielen weiteren Projekten im Asylbereich begegnen sich Menschen, deren Wege sich sonst kaum kreuzen würden. Es öffnen sich Türen! Auch deshalb sind alle Projekte – mögen es in den Augen einer Sozialarbeiterin auch blosse Angebote sein – mehr als die Übernahme von staatlichen Aufgaben. Viele, die beim Solinetz engagiert sind, werden durch das nahe Miterleben der Lebensumstände von Geflüchteten politisiert. Zum Beispiel, wenn ein Schüler plötzlich in Ausschaffungshaft genommen wird: «Wie kann das denn sein?…»
Wenn Menschen selbstverständlich und mit grosser Überzeugung ihre Zeit für Engagement hergeben, dann zeigen sie damit eindrücklich: «Es ist uns nicht egal, wie mit geflüchteten Menschen umgegangen wird. Wir stehen gegen Unrecht ein, denn wenn Grundrechte verletzt werden, verlieren wir am Ende alle.»
Es geht nicht ums Deutschlernen. Es geht um Solidarität, und die ist tatsächlich unentbehrlich.
Hanna Gerig ist Geschäftsleiterin von Solinetz Zürich.
Fotos: Ursula Markus
Mehr zum Thema ...Der vorliegende Artikel geht dem Begriff des «spät zugewanderten Jugendlichen» nach. Dabei impliziert der bildungspolitische Diskurs ein defizitäres Verhältnis von Mobilität und Bildungschancen und fordert besondere Massnahmen für «spät zugewanderte» Kinder und Jugendliche. Demgegenüber verbinden die betroffenen Jugendlichen selbst mit ihrer Mobilität das Erlangen einer qualitativ hochstehenden Bildung. Der Artikel stellt zur Diskussion, ob bloss das integrale Durchlaufen der Schulzeit am Ort zu Bildungserfolg führen kann oder ob es neue Bildungsmodelle für mobile Kinder und Jugendliche braucht.
Eine Gegenüberstellung von defizitorientiertem bildungspolitischem Diskurs und jugendlichen Gegenstrategien.
Von Kathrin Oester
In den 2010er-Jahren ist im bildungspolitischen Diskurs der Schweiz als Reaktion auf eine wachsende Zahl jugendlicher Migrant_innen und Geflüchteter der Begriff des «spät zugewanderten» Jugendlichen aufgetaucht (SEM 2015, 2016; EDK 2015, 2016, 2019; EJPD 2018). Die Kinder und Jugendlichen kamen allein, im Familiennachzug oder zusammen mit ihren Eltern in die Schweiz.
Das Konstrukt des «spät zugewanderten Jugendlichen» im bildungspolitischen Diskurs
Bezeichnet der Begriff der «spät Zugewanderten» auf den ersten Blick neutral beschreibend die Aufenthaltsdauer mobiler Jugendlicher, drückt sich darin bei genauerem Hinsehen ein Dilemma aus: Einerseits halten viele Bildungsverantwortliche über Parteiengrenzen hinweg am Postulat der Chancengleichheit fest; andererseits sind die Bildungschancen einer wachsenden Zahl mobiler Kinder und Jugendlicher stark eingeschränkt. Es entstand Handlungsbedarf – besonders in jenen Kantonen, in denen sich die Zahlen «spät zugewanderter» Jugendlicher am stärksten konzentrierten (VD, ZH, GE, BE, vgl. SEM 2015).
«Handlungsbedarf» bedeutete erst einmal, Mittel für neue Bildungsangebote bereitzustellen und neue Konzepte zu entwickeln, um den Bedürfnissen einer höchst heterogenen Klientel gerecht zu werden. Mit dem Ziel vor Augen, den Prozentsatz der Abschlüsse auf Sekundarstufe-II zu erhöhen und damit den Zuwachs an Sozialhilfeempfängern mit einer Migrationsgeschichte zu minimieren (Projekt Nahtstelle I, vgl. EDK 2019), war der Bund dazu herausgefordert, den Kantonen finanziell unter die Arme zu greifen. Neue Mittel konnten aber von den Bildungsverantwortlichen nur gefordert werden, wenn auch spezifische Defizite – Analphabetismus, Kriegstraumata, Lücken in der Bildungslaufbahn, schulische Passungsprobleme – geltend gemacht wurden. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb der Begriff des «spät zugewanderten Jugendlichen» von Anfang an stark defizitorientiert war.
Eine unliebsame und unbeabsichtigte Folge der beschriebenen Finanzierungslogik von Bund und Kantonen bestand nun allerdings in einem Diskurs, der alle «spät zugewanderten» Kinder und Jugendlichen unter den defizitbehafteten Begriff subsumierte und sie aufgrund der generalisierenden Logik, die solchen Begriffen eigen ist, als defizitär erscheinen liess. Kurz, mit dem Begriff des «spät zugewanderten Jugendlichen» war implizit eine Risiko-Diagnose verbunden, wonach sich «späte» Zuwanderung negativ auf die Bildungschancen auswirkt und spezifische Risiken enthält, zu deren Behebung es zusätzlicher Mittel, z.B. für Brückenangebote, bedarf.
Im vorliegenden Artikel wird der bildungspolitische Diskurs, der mit dem Begriff des «spät zugewanderten Jugendlichen» ein defizitäres Verhältnis von Mobilität und Bildungschancen beschreibt, der alternativen Sichtweise betroffener Jugendlicher gegenübergestellt: Denn anders als der bildungspolitische Diskurs sehen viele von ihnen einen positiven Zusammenhang zwischen Mobilität und Bildung und verbinden mit ihrer Ankunft in der Schweiz den Zugang zu qualitativ hochstehenden Bildungsangeboten.
Um den unterschiedlichen Perspektiven auf den Zusammenhang von Mobilität und Bildungschancen nachzugehen, werde ich, anstatt auf individuelle Jugendliche und ihre Bildungsverläufe zu fokussieren, die Strukturen des Bildungssystems selbst ins Zentrum stellen. Ein pädagogischer Ansatz, der aufgrund des individuellen Bedarfs «spät zugereisten» Kindern und Jugendlichen besondere Massnahmen zukommen lässt, ist zwar für diagnostische Zwecke notwendig und berechtigt. Dennoch ist gerade der strukturelle, nicht aufs Individuum fokussierende Ansatz die Voraussetzung, um zu erkennen, welche Auswirkungen das Konstrukt des «spät zugewanderten Jugendlichen» auf diese spezifische Gruppe von Zugewanderten hat. Dabei geht der strukturelle Ansatz implizit davon aus, dass besondere Massnahmen – wie zum Beispiel Brückenangebote – dann zu Barrieren werden, wenn Jugendliche weitgehend unabhängig von ihrer Vorbildung und ohne die erforderliche «Potentialabklärung» diesen separierten Bildungsangeboten zugeteilt werden (Del Percio & Duchêne 2015). Der strukturelle Ansatz betrachtet die Kategorisierung der «spät zugewanderten Jugendlichen», die besonderer Massnahmen bedürfen, folglich als Konstrukt und stellt eine systemische Logik ins Zentrum, die prinzipiell veränderbar ist.
Der vorliegende Artikel schliesst an Texte zur staatlichen Kategorisierung mobiler Lernender an, die für bestimmte Gruppen Bildungsbarrieren abbaut, diese für andere jedoch aufrechterhält. Die Texte basieren auf einem Forschungsprojekt zur Bildungslaufbahn unbegleiteter, minderjähriger Asylsuchender, das wir zwischen 2015 bis 2019 parallel in der Schweiz und der Türkei durchführten (vgl. Oester & Lems 2017, 2019; Lems, Oester & Strasser 2018).1
Defizitansatz, Risikoanalyse und Massnahmen zur Behebung des «Passungsproblems»
Im Diskurs des «spät zugewanderten» Jugendlichen werden in der Regel folgende Defizite geltend gemacht: das schulische Vorwissen, das es in der Schweiz beim Eintritt in die Sek-I-Stufe braucht, ist entweder nicht vorhanden oder es gibt ein «Passungsproblem»; Motivation und Arbeitshaltung der Jugendlichen entsprechen nicht den Erfordernissen in der Schweiz – es fehlt den Jugendlichen «kulturelles» und «soziales Kapital», d.h., sie sind weder auf der Ebene der geteilten Werte noch auf jener der sozialen Beziehungen genügend integriert und vernetzt und somit nicht befähigt, sich mit einheimischen Schüler_innen zu messen. Hinzu kommen die Defizite in der Schulsprache, und bei Geflüchteten – dies ganz besonders bei unbegleiteten Minderjährigen – werden Kriegs-Traumata und ihre prinzipielle Vulnerabilität als benachteiligende Faktoren geltend gemacht (EDK 2015; Pupavac 2001). Die genannten Defizite potenzieren sich im bildungspolitischen Diskurs mit der geografischen Nord-Süd-Distanz der Herkunftsländer der Jugendlichen zur Schweiz.
Der Begriff des «spät zugewanderten» Jugendlichen drückt also implizit ganz bestimmte Risiken aus, die mobilen Jugendlichen zugeschrieben werden. Und der dazugehörige Diskurs lässt ausser Acht, wie stark unser Bildungssystem, das bis zum Ende der Sekundarstufe I auf einem weitgehend sesshaften Verständnis von Bildungsprozessen aufbaut, selbst Bildungsbarrieren produziert: D.h., Sesshaftigkeit ist darin Voraussetzung und Garantin für einen «normalen», d.h. erfolgreichen Entwicklungs- und Bildungsprozess. Diese Vorannahme hat weitreichende Folgen für all jene Bevölkerungsgruppen, deren Lebenslauf von (forcierter) Mobilität geprägt ist. Bekannt ist die Diskussion einerseits in Bezug auf die Kinder von Roma, Sinti und Jenischen, die den Eltern früher oftmals weggenommen wurden, andererseits bezüglich nomadischer Kinder – inklusive der halb-nomadischen schweizerischen Bergbauernkinder. In Bezug auf diese Gruppen wurden ausgehend von der Normalität der Sesshaftigkeit Assimilationsforderungen geltend gemacht. Und es wurden zur Behebung des «Passungsproblems» spezifische Massnahmen – z.B. die Internierung der Kinder oder ihre Platzierung in Pflegefamilien – getroffen. Solange sich die nationalen Bildungssysteme nicht selber infrage stellten und veränderten, bezahlten die Betroffenen den hohen Preis der Assimilation für den Zugang zum Bildungssystem (McVeigh 1997).
Die Diskussion darüber, ob bloss das integrale Durchlaufen der Schulzeit an Ort zum Erfolg führen kann oder ob es neue Modelle für mobile, «spät zugewanderte» Kinder und Jugendliche braucht, ist heute aktueller denn je. Dies einerseits in Bezug auf Jugendliche, die nach ihrer Immigration in der Schweiz bleiben, andererseits bezüglich jener, die das Land später wieder verlassen (müssen). Unabhängig von der individuellen Geschichte der Kinder und Jugendlichen, ihrer forcierten oder freiwilligen Migration, ihrer oft jahrelangen Fluchtwege mit und ohne Eltern und ihres prekären Bleiberechts in Zielländern, die oft wieder zu Transitländern werden, handelt es sich dabei um eine wachsende Gruppe von Lernenden mit eigenen Bildungsbedürfnissen und Ressourcen.
Während das Umdenken und der Barriereabbau für mobile Lernende in Bezug auf begüterte soziale Schichten und ihre erwünschte Bildungsmobilität in sogenannt «internationalen Bildungsinstituten» und insbesondere auf tertiärer Stufe längst stattgefunden hat, stehen strukturelle Veränderungen, die den Defizitdiskurs für Kinder und Jugendliche aus forcierter Migration infrage stellen würden, noch weitgehend aus. Ein erster, wichtiger Schritt vorwärts bedeutete hier die Forderung fortschrittlicher Bildungsverantwortlicher: «Bildung vor Arbeit». Diese Forderung, wonach erst nach der obligatorischen Schulzeit zugereiste Jugendliche nicht direkt in den Arbeitsmarkt geleitet werden, sondern von nachobligatorischen Bildungsangeboten profitieren sollen, wurde Hand in Hand mit den besonderen Massnahmen für «spät zugereiste Jugendliche» gestellt (EDK 2016). Die Umsetzung dieser Forderung erschien gerade vor dem Hintergrund, dass ein hoher Prozentsatz von Zugewanderten ohne Sek-II-Abschluss im Erwachsenenalter zu Sozialhilfeempfängern werden von besonderer Bedeutung.2
Zu den als vielversprechend erachteten Massnahmen gehören im dualen Berufsbildungssystem der Schweiz die besonderen Bemühungen, die Jugendlichen in eine Berufslehre zu integrieren (wobei der Zugang zu einer Mittelschule mit Anschluss an die tertiäre Bildung vernachlässigt wird). Die «Integrationsagenda Schweiz» (EJPD 2018), die Massnahmen zur besseren beruflichen Integration formuliert, geht hier neue Wege, indem der Bund vermehrt in die sprachliche und berufliche Integration anerkannter Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommener investiert. Ziel ist es, die Kantone finanziell zu entlasten, den Anteil der Abschlüsse auf Sek-II-Stufe zu erhöhen und damit das Risiko einer späteren Arbeitslosigkeit zu verringern. In Zukunft sollen von den Massnahmen alle «spät Zugewanderten» profitieren (vgl. Artikel zur «Integrationsagenda» in dieser Nummer, S. 27-28).3
Neben den Vorteilen, von denen Jugendliche bei der beruflichen Eingliederung profitieren können, haben die eingeführten Massnahmen zwei Nachteile: Im Unterschied zu Ländern ohne duales Berufsbildungssystem (Bsp. Schweden, wo ehemalige UMA im Alter von 27 Jahren circa zur Hälfte eine Matura absolviert haben4), ermöglichen die Brückenangebote, inklusive «Integrationsvorlehre», einem Teil der Jugendlichen den Zugang zu einer Lehrstelle. Dies jedoch meist zuungunsten des Zugangs zur tertiären Bildung, die für die Jugendlichen nur auf langen Umwegen – über die Berufsmatura – möglich ist. Zwar wird in bildungspolitischen Dokumenten durchaus die Möglichkeit des Eintritts «spät Zugewanderter» in die gymnasiale Bildung genannt (EDK 2015; EJPD 2018, «Integrationsagenda Schweiz»), entsprechende Umsetzungsmassnahmen finden sich jedoch nur wenige. Ein zweiter Nachteil beim starken Akzent auf der Eingliederung in eine Berufslehre ist der Umstand, dass spät zugewanderte Jugendliche im Konkurrenzkampf um Lehrstellen nur selten gemäss ihren Neigungen und Talenten wählen können, sondern mit Lehrstellen in Sparten vorliebnehmen müssen, die wenig gefragt sind. Gleichzeitig verzichtet das Aufnahmeland selbst durch die separierenden Massnahmen auf die vielfältigen Ressourcen der «spät Zugewanderten», die in inklusiven Klassen für den Bildungsprozess aller Lernenden nutzbar gemacht werden könnten.
Damit wurden in sehr geraffter Form einige Aspekte der systemisch verursachten Bildungsbenachteiligung angesprochen, die im defizitären Konstrukt des «spät zugewanderten Jugendlichen» zum Ausdruck kommen. Diese Einschätzung soll nun der Wahrnehmung und alternativen Sichtweise der Jugendlichen selbst gegenübergestellt werden.
Sichtweise betroffener Jugendlicher: Bildungs-Barrieren und erfolgreiche Gegenstrategien
Im Jahr 2015 – inmitten der sogenannten «Flüchtlingskrise» – starteten wir ein ethnografisches Forschungsprojekt zur Bildungslaufbahn unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender in der Schweiz und der Türkei, wie einleitend erwähnt. In der Schweiz forschten wir vor allem in den Kantonen Bern und Zürich5 und haben neben den circa 60 Jugendlichen, die wir in UMA-Zentren und Bildungsinstitutionen kennen lernten, die Bildungslaufbahn von 15 Jugendlichen in teilnehmender Beobachtung intensiv begleitet. Die Jugendlichen waren bei ihrer Ankunft zwischen 14 und 16 Jahre alt, kamen mehrheitlich aus dem afrikanischen und asiatischen Raum und brachten unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen und Sprachenportfolios mit. Es fanden sich keine Analphabet_innen darunter, und während die einen 8-9 Schuljahre abgeschlossen hatten oder sogar über einen Mittelschulabschluss verfügten, klafften bei anderen aufgrund der politischen Lage im Herkunftsland und der langen Fluchtwege grosse Lücken in der Schullaufbahn.
Im Folgenden fasse ich kurz die unabhängig von der individuellen Bildungsbiografie vielen gemeinsamen Erfahrungen in der Schweiz zusammen. Dabei wird deutlich, dass der prekäre Aufenthaltsstatus von Jugendlichen, die oft jahrelang kein permanentes Bleiberecht erhalten, und die prekären Zukunfts- und Berufsaussichten eng miteinander verzahnt sind. Die besonderen Massnahmen für «spät zugereiste Jugendliche» sehen zwar ihre berufliche Integration vor; das langjährige Verbleiben gerade von Jugendlichen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in separierten Brückenangeboten – zuerst in Asylzentren, später in Angeboten ausserhalb der Zentren – kann aber auch als (abschreckende) Antwort der Behörden auf ihre Anwesenheit und als Ausdruck spezifischer staatlicher Mobilitätsregimes gelesen werden, die junge Leute über lange Jahre im Ungewissen über ihre Zukunftsaussichten lassen. Diese Dynamik ist ihrer beruflichen Integration kaum förderlich, entspricht jedoch dem Grundsatz, wonach die «Teilhabe am sozialen und wirtschaftlichen Leben» auf Personen, «die eine rechtlich und persönlich langfristige Bleibeperspektive in der Schweiz haben», beschränkt sein soll (EDK 2016). Tatsächlich erfüllt ein hoher Prozentsatz der Jugendlichen, die wir kennen lernten, genau diese Voraussetzung nicht, befinden sich doch viele von ihnen als nicht-anerkannte Flüchtlinge in einer Grauzone ohne langfristig garantiertes Bleiberecht und ohne die Aussicht auf Staatsbürgerschaft.
Der grössere Teil der Jugendlichen war bei Forschungsbeginn noch im Asylverfahren und verfügte allenfalls über einen F-Ausweis für vorläufig Aufgenommene, jedoch keinen permanenten Aufenthaltsstatus. Die Wohnsituation, der Asylprozess, der drohende Verlust der Rechte als Minderjährige bei Erreichen der Volljährigkeit, kurz die unsicheren Zukunftsaussichten in der Schweiz erwiesen sich als stark belastend. Hinzu kam die Auseinandersetzung mit einem zunehmend feindlichen Mediendiskurs zur «Flüchtlingswelle», zum Flüchtling als «Schmarotzer», «Hochstapler» oder verkapptem «Terrorist» und einer politisch unberechenbaren Asylpraxis, die sich etwa bezüglich Eritrea auf innenpolitischen Druck unvermittelt ändern konnte.
Aufgrund dieser Erfahrung setzten viele bei ihrer Zukunftsplanung weniger auf ihr «Recht auf Asyl» oder auf ihre «Kinderrechte» als darauf, sich durch Anpassung und Eingliederung in ein Brückenangebot oder eine Berufs(vor)lehre als «gute Flüchtlinge» zu erweisen und dadurch bei den Behörden ein vorläufiges Bleiberecht zu erwirken. Diese Erwägung zeigt, dass der vorläufige Aufenthalt in der Schweiz von den Jugendlichen genutzt wird, sich ihre bleibende Existenz im Residenzland zu verdienen. Im Zentrum steht dabei nicht eine Berufswahl entsprechend den eigenen Neigungen und Talenten, sondern die Anpassung an den lokalen Lehrstellenmarkt. (In Bezug auf die vorhandenen respektive nicht-vorhandenen Wahlmöglichkeiten zeigen sich gerade Brückenangebote des 10. Schuljahrs als Orte, wo im Sinne Bourdieus Status verhandelt wird.) Im Folgenden beschränke ich mich aus Gründen der geforderten Knappheit auf eine kurze Skizze erfolgreicher Strategien im Umgang mit gesellschaftlicher Marginalisierung und Exklusion und beziehe mich absichtlich auf Jugendliche, die eine hohe Motivation und viel Bildungskapital mitbringen, ohne die anderen zu berücksichtigen.
Inklusionsprozesse und erfolgreiche Strategien gegen Exklusion
Eine der Gegenstrategien der Jugendlichen bestand darin, trotz der aufenthaltsrechtlich prekären Lage und den zugeschriebenen Defiziten eine Ausbildung zu realisieren, die zu ihrer persönlichen Entwicklung beitrug und so weit wie möglich ihrem Lebensentwurf entsprach. Dies mit dem Ziel, langfristig ihre beruflichen Chancen (auch ausserhalb der Schweiz) zu verbessern. Dazu eigneten sie sich präzise Kenntnisse des Bildungssystems an und liessen sich von kompetenten Lehrpersonen und Engagierten aus der Zivilgesellschaft beraten. Dies hiess zunächst, das duale Berufsbildungssystem mit seinen Barrieren und Durchlässigkeiten zu analysieren und als mögliche Folge allenfalls von einer kurzfristigen auf eine langfristige Planung der Bildungslaufbahn mit einer Berufsmaturität umzustellen.
Eine weitere Strategie gegen die Exklusion bestand darin, die Schulsprache und oft auch den Dialekt auf möglichst hohem Niveau zu erlernen, dies trotz fehlendem Bleiberecht und langjährig separiertem Unterricht. Neben migrantischen Netzwerken erschlossen sich viele – entgegen Statushierarchien an Schulen, die sie potenziell zu Aussenseitern machten – über Sport und Freizeitangebote den Zugang zu einheimischen Peers. Voraussetzung dazu war ein differenzierter Umgang mit einer ambivalenten schweizerischen Gesellschaft: Diese zeigte sich den Jugendlichen einerseits durch exkludierende Strukturen und Personen, einen ablehnenden Mediendiskurs bezüglich Geflüchteter und Misstrauensbezeugungen aufgrund eines rassistischen Profilings im öffentlichen Raum. Andererseits begegneten sie in freundschaftlichen Beziehungen engagierten Personen in Institutionen und der Zivilgesellschaft. Beide Erfahrungsebenen verkörperten für die Jugendlichen anfänglich die Schweiz, und es war eine Herausforderung und ein langer Lernprozess, zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu differenzieren, die ambivalenten Erfahrungen (politisch) zu verstehen, sie emotional zu verarbeiten und – als Gegenstrategie – das Recht auf Partizipation zu behaupten. Dabei hatte der Umgang mit Ambivalenz und der Komplexität des Residenzlandes stets eine intellektuell-reflexive wie auch eine emotionale Seite.
Statt sich dem Rollenangebot des traumatisierten, vulnerablen Flüchtlingskindes zu ergeben und Opferstatus zu beanspruchen, entwickelten viele Handlungsmacht, indem das mitgebrachte Wissen und die gemachten Erfahrungen im Residenzland in Texte, in künstlerische Produktionen und Selbstdarstellungen in den sozialen Medien einflossen.
Ebenso wiesen sie die zugedachte Rolle des Flüchtlings als Parasit und Hochstapler zurück. Sie entwickelten hohe analytische Fähigkeiten im Umgang mit (Bildungs-)Frustration und Fremdenfeindlichkeit, wurden zu sensiblen «Ethnograf_innen» des Residenzlandes und wiesen den autoritativen Diskurs, der ihnen ein Existenzrecht absprach zurück. Stattdessen behaupteten sie wider alle Restriktionen, denen sie als Jugendliche ohne permanentes Aufenthaltsrecht unterlagen, ihre Freiheit und ein Recht auf Partizipation. Konkret hiess dies auch immer wieder, trotz zahlreicher Ablehnungen auf Lehrstellen-Bewerbungen und Gefühlen des Ausgeschlossenseins und der Ablehnung, einen Platz im öffentlichen Raum, in der Gesellschaft und den Statushierarchien unter Peers zu erobern.
Fazit
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich das Selbstbild der von uns begleiteten Jugendlichen – basierend auf der Herstellung eines positiven Zusammenhangs von Mobilität und qualitativ hochstehenden Bildungsangeboten – diametral vom defizitorientierten Diskurs über «spät Zugewanderte» mit einem «Passungsproblem» unterschied. Dieser Fremdzuschreibung galt es, den eigenen Willen zum Erfolg entgegenzuhalten und die Anerkennung der eigenen Ressourcen und Erfahrungen einzufordern.
In unserem Projekt haben wir circa die ersten 4 Jahre der schulisch-beruflichen Laufbahn der Jugendlichen mit verfolgt. Trotz dieser kurzen Zeit, die nur begrenzte Schlussfolgerungen zulässt, stellte sich Folgendes sehr deutlich heraus: Wir fanden hoch motivierte Jugendliche vor, zum Teil auch hoch motivierte Lehrpersonen und erhöhte staatliche Investitionen in die Bildung «spät Zugereister»; dennoch wurden wertvolle Jahre und viel Potential in separierte und das Lernen stark beschränkende (Brücken-)Angebote investiert. Wie aus der Inklusionsdebatte bekannt, finden aber sprachliche wie soziale Lernprozesse ohne Separierung rascher statt. Gerade Jugendliche aus forcierter Migration bleiben bezüglich ihrer Zukunftsaussichten in der Schweiz oft jahrelang im Ungewissen und sind mit separierenden Massnahmen konfrontiert, die unbeabsichtigt selbst zur Marginalisierung und Exklusion der Jugendlichen beitragen.
Soll die hohe Motivation vieler «spät zugereister» Jugendlicher und ihr Bildungspotential besser genutzt werden, wäre programmatisch Folgendes zu beachten:
• Erstens ist die Ideologie der Sesshaftigkeit grundsätzlich infrage zu stellen, soll Bildungskapital nicht bloss unter der Bedingung der Sesshaftigkeit akkumuliert werden können. Für viele Jugendliche ist die Ankunft in der Schweiz neben asylrechtlich relevanten Fluchtgründen das vorläufige Resultat eines individuellen oder familiären Bildungsprojekts, das nur aufgrund ihrer radikalen Bereitschaft zur Mobilität möglich war. Das Bildungssystem kann viel dazu beitragen, das Wissen und die sprachlichen Ressourcen mobiler Jugendlicher für die Gesellschaft als Ganze nutzbar zu machen.
• Zweitens sind die in vielen programmatischen Papieren enthaltenen Forderungen der Valorisierung der Bildungsjahre und -titel mobiler Jugendlicher und jene nach einer differenzierten Potentialabklärung bei ihrer Einschulung konsequenter umzusetzen: dadurch könnte vielen ein direkterer Mittelschulzugang ermöglicht werden, statt der oft jahrelangen Bemühungen um «Schnupperlehren», Praktika, «Anlehren», «Vorlehren», «Integrationsvorlehren» oder Arbeitsintegrationsprogramme.
• Wie von einigen Bildungsverantwortlichen vorgeschlagen, ist drittens der Unterricht in Angeboten des 10. Schuljahrs stärker zu modularisieren, so dass «spät Zugewanderte» curricular von einem breiteren Bildungsangebot profitieren könnten.
• Abschliessend ist zu fordern, dass auch die Investitionen in Bildungsangebote für Jugendliche ohne permanente Aufenthaltsbewilligung der Inklusion und ihrem bildungsmässigen und beruflichen Fortkommen dienen. Damit gewinnt das Bildungssystem an Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit gegenüber asylpolitischen Dynamiken, die der Abschreckung dienen. Eine erste Massnahme in diese Richtung ist die Regelung, auch vorläufig Aufgenommenen mit F-Ausweis Zugang zu (allen) Bildungsangeboten zu geben.
Dr. Kathrin Oester ist Sozialanthropologin (Schwerpunkte Bildung und Migration, Medienanthropologie und Prozesse des Globalen Lernens). Nach ihrer Tätigkeit an der PHBern ist sie assoziierte Forscherin am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern.
kathrin.oester@anthro.unibe.ch
1 SNF-Forschungsprojekt (2015-2019) «Transnational Biographies of Education: Young Unaccompanied Asylum Seekers and their Navigation through Shifting Social Realities in Switzerland and Turkey», gefördert durch den Schweizerischen Nationalfonds (Leitung: Prof. S. Strasser, Universität Bern, und Prof. K. Oester, PHBern; Erhebung der ethnografischen Daten in der Schweiz: Annika Lems, in der Türkei: Elif Tibet).
2 Im Jahr 2015 stellte das Bundesamt für Statistik fest, dass nur 72.5% der nicht in der Schweiz geborenen Jugendlichen bis zum 25. Altersjahr einen Abschluss auf Sek II-Stufe haben. Diese Daten bildeten die Ausgangslage für spezielle Massnahmen, um die Bildungsbedingungen dieser Gruppe zu erhöhen (vgl. (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/uebertritte-verlaeufe-bildungsbereich.assetdetail.4282070.html).
3 Neu ist ein längerer Zeitraum für die Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung und die Behebung der Defizite, zum Beispiel in der lokalen Sprache, vorgesehen. Ein individuelles Case Management und die Möglichkeit einer Integrationsvorlehre sollen die Jugendlichen auf eine Berufsausbildung und den Arbeitsmarkt vorbereiten.
Was in den genannten Massnahmen weitgehend fehlt, ist das Aufbauen auf den Ressourcen – auch den sprachlichen – der so genannten «spät Zugereisten» sowie der Anschluss an eine Mittelschule. (Eine Alternative entwickelte hier der Kanton Bern, der ein Brückenangebot für den Übertritt ins Gymnasium anbietet).
4 Detaillierte statistische Angaben s. Çelikaksoy & Wadensjö (2015).
5 Zur Bildungssituation von UMA im Kanton Zürich vgl. auch Bitzi und Landolt (2017).
Literatur
Bitzi, Barbara, und Sara Landolt. 2017. Unaccompanied minor asylum seekers – Processes of subject formation and feelings of belonging in the context of educational experiences in Switzerland. Geographica Helvetica 72 (2): 217–226.
Çelikaksoy, Aycan und Eskil Wadensjö. 2015. Unaccompanied Minors and Separated Refugee Children in Sweden. An Outlook on Demography, Education and Employment. Discussion Paper 8963. Bonn: Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit.
Del Percio, Alfonso und Alexandre Duchêne. 2015. Sprache und sozialer Ausschluss. Eine Genealogie des schulischen Berufsintegrationsprozesses jugendlicher Migranten in der Schweiz. In Mehrsprachigkeit und (Un)gesagtes, Hrsg. A. Schnitzer und R. Mörgen, 194–215. Berlin: Juventa.
EDK, Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren. 2015. Veränderte Migration; spät einreisende ausländische Jugendliche und Bildung. Unveröffentlichte Information/Aktennotiz vom 15./16. Oktober 2015.
Dies. 2016. Erklärung zu den Prinzipien für eine nachhaltige Integration von spät zugewanderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft in der Schweiz. Beschluss der EDK-Plenarversammlung vom 23. Juni 2016 im Einvernehmen mit dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) und dem Staatssekretariat für Migration (SEM). Zugriff unter: https://www.gr.ch/DE/themen/Integration/Pdf/edk_beschluss_spaetimmigrierte.pdf
Dies. 2019. Auslegeordnung zu spät zugewanderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen an der Nahtstelle I. Schlussbericht im Auftrag des GS EDK, Büro für Arbeits- und Sozialpolitische Studien BASS AG.
EJPD, Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement. 2018. Integrationsagenda Schweiz. Bericht der Koordinationsgruppe vom 1. März 2018. Zugriff unter: https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/integration/agenda/ber-koordinationsgruppe-integrationsagenda-d.pdf
SEM, Staatssekretariat für Migration. 2015. Kinder und Jugendliche im Asyl- und Migrationsbereich. Profile und Herausforderungen. (Unveröffentlichter) Beitrag von Myriam Schleiss, Plattform für Interkulturelle Schulfragen, Bern, Haus der Kantone.
SEM, Staatssekretariat für Migration. 2016. Bestandsaufnahme zur Bildungsbeteiligung von spät eingereisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Schlussbericht, Büro für Arbeits- und Sozialpolitische Studien BASS AG.
Lems, Annika; Oester, Kathrin; Strasser, Sabine. 2019. Children of the crisis: ethnographic perspectives on unaccompanied refugee youth in and en route to Europe. Journal of Ethnic and Migration Studies: 1-21.
McVeigh, Robbie. 1997. Theorising Sedentarism: the roots of anti-nomadism. In: Acton T. (ed.), Gypsy Politics and Traveller Identity, Refugee Studies Centre, University of Oxford, Conference Proceedings.
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Oester, Kathrin und Annika Lems. 2019. Recht auf Bildung? Unbegleitete Minderjährige zwischen Inklusion und Exklusion. In: Sieber Egger, Anja; Unterweger, Gisela; Jäger, Marianna; Kuhn, Melanie; Hangartner, Judith (Hrsg.), Kindheit(en) in formalen, nonformalen und informellen Bildungskontexten. Ethnografische Beiträge aus der Schweiz (239-258). Wiesbaden: Springer VS.
Pupavac, Vanessa. 2001. Misanthropy Without Borders: The International Children»s Rights Regime, Disasters, Vol 25(2):95-112.
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Mehr zum Thema ...Geflüchtete Kinder und Jugendliche gehören zu den verletzlichsten Kindern in unserem Schulsystem. Sie sind auch in der Schweiz nicht nur von den Folgen von Krieg, Verfolgung, Flucht, Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen, sondern haben insgesamt eingeschränkte Bildungschancen – trotz des grossen Engagements vieler Lehrpersonen. Oft fehlt der politische Wille, Investitionen zu tätigen, um die Bildungsstrukturen an die Bedürfnisse der Kinder und ihrer Lehrpersonen anzupassen.
Von Bettina Looser
Nach kurz aufgeflammter Aufmerksamkeit in den Jahren 2015/2016 zeigt die Bildungspolitik am Thema Flucht und Schule aktuell wenig Interesse. Darum bekommen Lehrpersonen oft zu wenig ideellen, personellen und finanziellen Support. Es fehlt an einer breiten Weiterbildungspalette für Lehrpersonen, aber auch an angepassten Formen der schulischen Förderung und der psychosozialen Stabilisierung der Kinder – flexible Lösungen oder innovative Formen von Teamarbeit beispielsweise sind so kaum möglich.
Vielerorts gibt es darum Verunsicherung im Zusammenhang mit Bildungsdefiziten oder/und Flucht-Traumata und deren Folgen im Schulalltag. Motivierte Lehrpersonen reagieren auf die Herausforderungen dieser Integrationsaufgabe nicht selten mit anfänglichem Aktivismus, der allmählich Resignation und Ratlosigkeit weicht. Die Folge ist, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche vorschnell problematisiert und pathologisiert werden, und, auch von politischer Seite, nach ihrer generellen Separierung gerufen wird. Das aber ist etwas, was ihre schulische und soziale Integration nicht befördert, sondern viel eher massiv behindert.
Was aber brauchen geflüchtete Kinder und Jugendliche in der Schule? Und was brauchen ihre Lehrpersonen, um ihrer Aufgabe gerecht werden zu können?
A. Bedürfnisse geflüchteter Kinder und Jugendlicher
Zu einer gelingenden schulischen Integration gehören qualitativ hochstehender Sprachunterricht, soziale Integration im Schulalltag und tragfähige Beziehungen zu den Lehrpersonen – und vieles mehr. Für alle Aspekte der schulischen Integration braucht es Wissen, Kompetenzen, Handlungsideen und die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Tuns. Besonders wichtig ist aber auch eine wohlwollende und bedürfnisorientierte Grundhaltung der Lehrpersonen. In der Folge werden darum verschiedene Aspekte zweier Bedürfnisse von geflüchteten Kindern und Jugendlichen beschrieben, die allzu oft vergessen gehen: Das Bedürfnis nach Ressourcenorientierung und jenes nach traumapädagogischer Begleitung im Schulalltag.
Migration als Normalität anerkennen
Die Grundbedingungen einer ressourcenorientierten Wahrnehmung geflüchteter Kinder und Jugendlicher ist ihre Akzeptanz als Teil einer postmigrantischen Gesellschaft und der Blick auf ihre Integration als ein normaler gesellschaftlicher Vorgang. Bildung findet im Kontext von Migration statt, und die Schule ist der Integrationsort, für alle jungen Menschen einer Gesellschaft. Diese Einsicht nimmt der schulischen Integration geflüchteter Kinder den Sonderstatus und die Bedrohung des Ausserordentlichen.
Ressourcen erkennen, nicht nur die Defizite
Geflüchtete Kinder verfügen zu Beginn ihrer schulischen Integration manchmal noch über wenig für uns offensichtliches Wissen und Können. Das versperrt oftmals unnötig lange den Blick auf vorhandene Ressourcen. Dabei wäre es besonders wichtig, auch zu fragen, was das Kind schon kann und gelernt hat. Auch ausserschulisch erworbene Kenntnisse und Kompetenzen müssten dabei umfassend beachtet werden. Das einzelne Kind sollte zudem in eine Situationsanalyse einbezogen werden. Die Vorgeschichte, Vorbildung, die Wohn- und Schulsituation, Familie, Peers etc., alles das gehört dazu, ebenso wie die Selbsteinschätzung, die Wünsche und die Motivation des Kindes oder des Jugendlichen. Wie kann das einzelne Kind seine Ressourcen stärken? Wie kann ich ihm in der Schule ermöglichen, diese zu zeigen und so auch Resonanz zu erfahren? Darauf Antworten zu finden, gehört zu den zentralen Aufgaben der Schule – auch bei geflüchteten Kindern. Anstelle des Anspruches, dass Kinder in der Schule zu funktionieren haben, sollte zudem eine Haltung der suchenden Gelassenheit treten, bei welcher der Beziehungsaufbau und das schrittweise Lernen bei offener und flexibler Planung im Zentrum stehen.
Diskriminierende Wahrnehmungsmuster vermeiden
An Schweizer Schulen ist bereits viel Wissen und Können in Bezug auf die schulische Integration fremdsprachiger Kinder vorhanden, worauf man bauen kann. Gleichzeitig zeigt sich aber in den letzten Jahren gerade an den geflüchteten Kindern, dass dies für die sich stellenden Herausforderungen noch nicht reicht. Die Schwächen des Schulsystems bezüglich der Gestaltung von Diversität in all ihren Dimensionen, etwa ein Mangel an Diversitätssensibilität oder Rassismus-Bewusstsein, trifft die verletzlichsten Kinder am stärksten. Was anders ist oder anders erscheint, ist bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen besonders sichtbar: Meist sind sie nicht-europäischer Herkunft, tragen manchmal Kopftuch, haben vielleicht Kriegsnarben, sind verunsichert durch ein ungewisses Bleiberecht und unklare Perspektiven, sind psychosozial oftmals belastet durch Krieg, Verfolgung und Flucht. Sie haben, gemessen an unseren Normen, Bildungsrückstände und leben meist in sozioökonomisch prekären Verhältnissen. Dieses sichtbare Anderssein führt unter anderem auch dazu, dass das Recht auf Gleichbehandlung, auf Teilhabe und auf ressourcenorientierte Förderung oft noch stärker missachtet wird als bei anderen migrantischen Kindern.
Transnationale Identitäten als Ressource betrachten
Ressourcenorientierung bedeutet auch, von dem auszugehen, was Kinder und Jugendliche selbst als ihre Stärken definieren. Eine grosse Herausforderung dabei ist es, dass Identitäten im Schulkontext immer noch oft national statt transnational adressiert werden. Definitionen werden von aussen statt von innen, also von den Lehrpersonen statt von den Kindern selbst, vorgenommen. Die Kinder und Jugendlichen werden bei der Erarbeitung von Lösungen oder bei für sie relevanten Entscheiden kaum einbezogen. Kategorisierung, Vorurteile, Stigmatisierung – das alles nimmt geflüchteten Kindern und Jugendlichen im Alltag auch oft den Mut und schwächt sie in ihrem schulischen Fortkommen.
Was hilft Achtsamkeit gegenüber meiner eigenen diskursiven Praxis als Lehrperson, wie kann ich «Othering» oder «doing difference» oder andere Ausschlussverfahren vermeiden? Auf diese Fragen gibt es Antworten, die in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung und in der Beratung, in Supervisionen und Intervisionsgruppen entwickelt werden können, aber auch immer wieder vor Ort in den Schulen thematisiert werden müssen.
Gemeinschaftsbildung und Zugehörigkeit als Kernaufgaben erkennen
Eine weitere Herausforderung in Bezug auf Ressourcenorientierung ist die immer noch weit verbreitete Vorstellung, Vielfalt sei eine Last statt eine Ressource. Und in Schulen brauche es daher in erster Linie eine «vernünftige Verwaltung des Lernens und Lehrens», also griffige didaktische und organisatorische Methoden und Massnahmen. Stattdessen braucht es, gerade bei der Integration geflüchteter Kinder, an erster Stelle eine kritisch-konstruktive Haltung gegenüber Vielfalt, die das Potential wie auch die Härten in den Blick nimmt. Zudem braucht es den Willen, das schulische Zusammenleben aktiv zu gestalten. Das bedeutet, intensiv Gemeinschaftsbildung zu betreiben und unterschiedlichen Meinungen und Lösungswegen in allen schulischen Belangen viel Raum zu geben, aktiv an der sozialen Anerkennung aller zu arbeiten und in die Zugehörigkeit geflüchteter Kinder und Jugendlicher zu investieren.
Partizipation geflüchteter Eltern ermöglichen
Gerade bei geflüchteten Eltern wird oft vordringlich Dankbarkeit eingefordert, ebenso wie die Bereitschaft, schnell die Sprache und das schulische Pflichtenheft zu erlernen. Dabei geht bisweilen vergessen, dass auch geflüchtete Eltern Rechte haben – etwa das Recht, zu verstehen, wie unsere Schule funktioniert, oder was diese mit ihrem Kind vorhat. Dies kann aber nur gelingen, wenn von Beginn weg interkulturell Dolmetschende und VermittlerInnen beigezogen werden – nicht, wie es zu oft geschieht, nur für sogenannte Problemgespräche, sondern für die gesamte Kommunikation, welche ggf. zum Beispiel auch Analphabeten gerecht werden muss. Denn nur so können Eltern an der Schule partizipieren, ihre Ressourcen aktiv einbringen und als Erziehungspartner aktiv sein – und nur so können die Lehrpersonen mit ihrer Arbeit wirksam sein.
Zudem sollte sich endlich ein Verständnis von Integration als gemeinsamer Prozess etablieren. So wäre Elternarbeit weniger Belehrung und dafür mehr Erziehungspartnerschaft, bei der man, ausgehend von der Verständigung über gemeinsame Ziele für das Kind, gemeinsam Wege zur Förderung des Kindes entwickelt. Elternarbeit darf sich dabei nicht nur auf Elternabende und Elterngespräche beschränken, sondern sollte «neue» Formen wie etwa Hausbesuche oder Partizipation im Unterricht wagen.
Schule als sicheren Ort des Perspektivengewinns etablieren – nicht trotz, sondern wegen vorhandener Traumata
Belastete, traumatisierte und gestresste Kinder gehörten nicht in die Volksschule, sie sei kein Ort für «diese Kinder» – dies ist bisweilen zu vernehmen. Doch die Schule ist nicht nur selbstredend für alle Kinder, die in der Schweiz leben, der Ort des Lernens, sondern sie ist der beste Ort der Stabilisierung und des Perspektivengewinns für von Krieg und Flucht verunsicherte Kinder und Jugendliche – bietet sie doch Sicherheit, Stabilität, Beziehungs- und Lernmöglichkeiten und so die Chance für jedes Kind und seine Eltern, wieder Hoffnung zu schöpfen.
Statt in Massnahmen-Aktivismus in die Balance der Lehrperson investieren
Bei Schwierigkeiten mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen kommt es schnell – vielfach zu schnell – zu Interventionen, zu mehrfachen Massnahmen, zur Umteilung des Kindes in andere Klassen oder zu anderen gewichtigen Schritten, welche oft nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Im Gegenteil: Wegen Verfrühtheit, wegen mangelnder Akzeptanz oder einem «Zuviel aufs Mal» können diese zu einer weiteren Verunsicherung beitragen. Anstelle dieses Aktivismus, der die Kinder oft zusätzlich unter Stress setzt, könnten vermehrt Investitionen in die Stärkung und Unterstützung der Lehrperson getätigt werden. Supervision und Coaching ermöglichen das differenzierte Erkennen der jeweils spezifischen Herausforderung, die Entwicklung von gangbaren Wegen und auch eine Chance für die persönliche Entwicklung.
Stereotypisierung von belasteten geflüchteten Kindern und Jugendlichen vermeiden
Eine weitere Herausforderung stellen stereotype Vorstellungen von geflüchteten Kindern dar. «Alle Flüchtlingskinder sind traumatisiert» – diese Haltung verengt den Blick nicht nur gegenüber der Diversität der gesamten Gruppe, sie verunmöglicht oft auch die Erkenntnis, dass ein Kind, das traumatisiert ist, noch vieles mehr ist als ausschliesslich traumatisiert. Auch hier muss eine Differenzierung, auch mit Hilfe von spezialisierten SchulpsychologInnen und KinderpsychiaterInnen stattfinden, die es den Lehrpersonen ermöglicht, das einzelne Kind und seine spezifischen Bedürfnisse wahrzunehmen.
Traumapädagogische Kompetenzen erwerben
Nicht selten kommt es durch mangelnde Vorbereitung der Lehrpersonen auf die Bedürfnisse traumatisierter Kinder und Jugendlicher zu Re-Traumatisierungen, z.B. durch mehrfache Beziehungsabbrüche, wenn belastete Kinder immer wieder weitergereicht werden. Lehrpersonen, welche weder die Symptomatik von Traumata noch die entsprechenden Handlungsoptionen kennen, fühlen sich schnell überfordert. So kommt es zu Fehlschlüssen, zur Abwertung des kindlichen Verhaltens und in Folge zu verstärkter Stresssymptomatik auf beiden Seiten. Damit dies verhindert werden kann, braucht es bei Lehrpersonen auch im traumapädagogischen Bereich einen Zuwachs an Wissen und Können. Zudem braucht es eine konsequente Fokussierung auf den Beziehungsaufbau und die Beziehungsstabilität. Lehrpersonen mit dieser Aufgabe allein zu lassen ist nicht ratsam – insbesondere Schulleitende sollten auf eine gute Verteilung der Lasten achten, das Team und die Schulsozialarbeit ebenso wie die Eltern, die Schulischen HeilpädagogInnen, SchulpsychologInnen und die zuständigen Sozialarbeitenden einbeziehen.
B. Was brauchen Lehrpersonen?
Über Wissen und Kompetenzen zum Thema Bildung und Migration verfügt man automatisch, da gibt es nichts Besonderes zu lernen! Diese Annahme ist verbreitet, sie ist aber gerade im Zusammenhang mit der schulischen Integration von geflüchteten Kindern fatal. Was bedeutet Schulehalten im Kontext von Migration, Flucht und Trauma? Dies ist eine komplexe Fragestellung, deren Beantwortung durch Lehrpersonen einen Zuwachs an Wissen, Kompetenzen und Handlungsideen erfordert.
Diskriminierungs- und rassismusbewusste Schule als Lerninhalt für Lehrpersonen weiter etablieren
Viele Schulprobleme von Kindern sind nicht individualpsychologisch zu erklären. Gerade im Zusammenhang mit Migration und Flucht braucht es an den Pädagogischen Hochschulen, in der Bildungspolitik und in den Lehrkörpern dringend eine Sensibilisierung für die Macht von Institutioneller Diskriminierung und strukturellen Defiziten, etwa bei der schulischen Selektion oder anderen Zuweisungsentscheiden. Dazu gehört auch, dass anerkannt wird, dass Diskriminierung, Rassismus und diskriminierende Alltags- und Diskurspraktiken überall vorkommen, und man als Schule einen bewussten Entscheid und dazugehörige Massnahmen treffen muss, um eine rassismus- und diskriminierungsbewusste Schulkultur aufzubauen.
Chancengerechte Bildung als gesamtschulische Herausforderung anerkennen
Auch die Vorstellung, dass nur die Spezialisten, also beispielsweise die DaZ-Lehrpersonen oder HeilpädagogInnen zuständig seien für geflüchtete Kinder und Jugendliche, ist populär. Chancengerechte Bildung und Nichtdiskriminierung sind aber gesamtschulische Herausforderungen, die es gemeinsam zu meistern gilt. Dazu braucht es einen Lernprozess aller Beteiligten, also auch der Klassenlehrpersonen, der Schulleitenden und der Behördenmitglieder, aber auch der anderen involvierten Personen (Beistände, Sozialarbeitende, SchulpsychologInnen etc.)
Die Aufgabenverteilung ist in diesem Zusammenhang eine besondere Herausforderung. Wer hat die Fallführung bei der Zusammenarbeit? Abhilfe schaffen kann eine sorgfältige Rollenklärung, gepaart mit konsequenter Netzwerkorientierung, welche Transdisziplinarität und Transkollaboration auf allen Ebenen als handlungsleitend betrachtet. Dies bedeutet, dass man bereit ist, voneinander zu lernen und sich gemeinsam weiterzuentwickeln – nur so können nachhaltige Lösungen entwickelt werden.
Schulische Chancen erhalten durch Flexibilität und Kreativität
Oft werden im Schulkontext an geflüchtete Kinder und Jugendliche nur wenige Anforderungen gestellt, die Leistungserwartung wird tief gehalten, und minimale schulische Chancen werden schnell akzeptiert. Das Ziel aber muss es sein, Lern- und Schulerfolg auch für diese Kinder aktiv anzustreben: Also kompensatorische Förderung nicht nur im Sprachunterricht anzubieten, sondern auch in NMG und anderen Fächern, traumapädagogische Unterstützung zu bieten bei Lernschwierigkeiten, Nachteilsausgleich anzustreben wenn nötig, Lernzielbefreiungen in kurzen Abständen auf ihre Notwendigkeit hin zu überprüfen, den Kindern durch eine flexible Schulstufeneinteilung zu mehr Entwicklungszeit und mehr Schuljahren zu verhelfen, und vieles mehr. Es braucht kreative Lösungen, und es braucht alternative Methoden, welche die Arbeit der Lehrpersonen erleichtern: Innovative Lernmaterialien, Alphabetisierungshilfen für ältere, direkt integrierte Kinder und Jugendliche, Methoden wie Peer-to-Peer-Lernen, Rollenspiele u.s.w.
C. Bedarf an strukturellen Entwicklungen und Reformen
Aus den beschriebenen Herausforderungen ergibt sich ein Handlungsbedarf bei den beteiligten Institutionen. Diese sind angehalten, im besten Interesse der Kinder, tragfähige Strukturen in der Schule auf- und auszubauen.
Stereotype Vorstellungen überwinden, Segregation vermeiden
Eine der grössten Schwierigkeiten bei strukturellen Reformen ist es, die Vorstellung zu überwinden, Separation sei das Mittel der Wahl. Manchmal steckt dahinter politischer Unwille, geflüchteten Kindern dieselben Rechte wie den einheimischen Kindern zuzugestehen. Manchmal aber auch die Idee, es sei für Geflüchtete besser, möglichst lange in einem geschützten Raum die Sprache und die sozialen Regeln des hiesigen Kulturraumes kennenzulernen.
Im Kanton Graubünden zu Beispiel gibt es noch immer eine Segregation von geflüchteten Kindern in Schulen in Asylzentren. Dort verbringt mehr als die Hälfte der Kinder mehrere Jahre isoliert von den übrigen Kindern der jeweiligen Wohngemeinde Wohngemeinde (Stand Sommer 2019, gemäss Berichterstattung SRF vom 26.6.19). Dies widerspricht dem in der Verfassung und in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Recht aller Kinder auf Gleichbehandlung. Es widerspricht zudem den klaren wissenschaftlichen Befunden: Sprache lernen klappt am besten, wenn Wissen und Kompetenzen nicht nur von der Lehrerin vermittelt werden, sondern erlebbare Sprache, soziales Zusammenleben und Zugehörigkeit im Verbund mit anderen Kindern möglich sind, und die Kinder an einem normalen Alltag teilhaben können. Jahrelange Ausgrenzung und Verweigerung von gesellschaftlicher Teilhabe hingegen ist schädlich für die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Das Kantonsparlament Graubündens hat im Dezember 2019 einen Vorstoss zur Verbesserung dieser Praxis abgelehnt, ebenso wie den Gegenvorschlag der Regierung. In der Debatte zum Thema wurde denn auch ein stereotypes Bild der geflüchteten Kinder gezeichnet. Zugespitzt formuliert: Das «wilde» Flüchtlingskind muss zuerst zivilisiert werden, bevor es auf die Bündner Gesellschaft «losgelassen» werden kann. Die Eltern sind rückständig und müssen unter Heimaufsicht lernen, wie Schule geht.
Diese Sichtweise ist falsch und diskriminierend. Es liegt ihr aber auch ein verkürztes Verständnis von Lernen und Bildung zugrunde. Es ist das Wesen von Bildung an sich, dass sie Menschen in ihrem Werden begleitet, bereichert und unterstützt – alle Kinder brauchen zu jedem Zeitpunkt eine prozessorientierte Beurteilung ihrer Kompetenzen. Es ist also höchst fragwürdig, einen Zeitpunkt anzunehmen, an dem die geflüchteten Kinder «fertig» sind, also «genug integriert», um dann in der Regelschule integriert zu werden.
Zur Frage, wann ein Kind «parat» ist, existiert denn auch kein belastbarer Kriterienkatalog, der festlegen könnte, was ein Kind genau erfüllen muss, damit es übertreten darf. Dies ist intransparent, verführt zu Willkür gegenüber Kindern und ihren Eltern und schafft einen rechtsfreien Raum. Warum und von wem werden die Übertrittsentscheide gefällt? Sind diese geregelt, transparent und anfechtbar? Gibt es einen Rekursweg? Es handelt sich zudem um eine Selektion im Schulsystem, also um eine Sache, die als solche ausgewiesen und geregelt sein muss.
Thema «Bildung und Migration» auf allen Bildungsebenen stärken
Statt Reformbemühungen sind beim Thema «Bildung und Migration» allenthalben Anzeichen von Stagnation und Rückschritten zu erkennen. Mancherorts scheint etwa das Thema unter die allgemeinen Sonderpädagogik subsumiert und somit als eigenes, gewichtiges Thema nicht mehr genügend anerkannt zu werden. Noch immer gibt es auch nur eine schwache institutionelle Verankerung des Themenfeldes «Bildung und Migration» in PH-Studienplänen – eine integrierte Gesamtkonzeption und ein fächerübergreifender Kompetenzaufbau fehlen meist. Eine Professionalisierung und institutionelle Stärkung des Themenkomplexes Bildung und Migration würde zu einer Verbesserung beitragen. Dasselbe gilt für die Behörden auf nationaler, kantonaler und Gemeindeebene. Doch solange die Zahl der geflüchteten Kinder nicht wieder ansteigt, fühlen sich nur wenige herausgefordert, sich um bessere Konzepte und eine gute Alimentierung des Themas zu bemühen. So gelangen gute Modelle kaum zum Austausch, schlechte werden nicht beachtet, zu vieles ist schlicht nicht bekannt.
Die EDK steht in diesem Zusammenhang in einer besonderen Verantwortung: Sie sollte mit einer Erhebung in der Volksschule und auch in den Bundesasylzentren überprüfen, wie die schulische Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher gehandhabt wird und entsprechende Empfehlungen formulieren.
Transinstitutionelle Kollaboration der involvierten Bildungs- und Integrationsakteure vorantreiben
Die Schwäche der Integrationsagenda ist es, dass sie die Volksschule ausklammert. Diese «Integrationslücke» führt zu grossen Herausforderungen an den Schnittstellen, zudem entsteht die Gefahr eines Innovationsstaus in den obligatorischen Schulen. Diese sollten darum vorausschauend und gut geplant werden. Zudem müssen auch auf der Volksschule weitere Innovationen mit transkollaborativem Fokus angestossen werden. Vielerorts herrschen noch starre Vorstellungen in Bezug auf die Dauer, Form und Passung von Integrationsmassnahmen. Es braucht stattdessen Flexibilität, Individualisierung und dynamische Modelle. Hier könnten die verschiedenen Institutionen und Player gemeinsam nachhaltige Lösungen entwickeln.
So, wie beispielsweise in Schaffhausen. Dank intensiver Zusammenarbeit von Erziehungsdepartement, Pädagogischer Hochschule, Schulischer Sozialarbeit, dem Sozialamt und der Integrationsfachstelle sind substantielle strukturelle Innovationen möglich geworden, die auch in anderen Kantonen Schule machen könnten: Der Kanton praktiziert vornehmlich die Direktintegration von geflüchteten Kindern in Regelklassen, begleitet von DaZ-Unterricht und SHP-Stunden, bei Bedarf mit einem Anfangscoaching durch eine Fachperson (10 Stunden oder mehr), zudem stehen 10 Entlastungslektionen zur Verfügung. Alle DaZ-LehrerInnen werden obligatorisch zum Thema weitergebildet, und die Schulische Sozialarbeit bietet mit dem Tool «Assieme Sit-In» eine Unterstützung durch intensive Partizipation der Eltern in der Schule an. Zudem gibt es an der PHSH seit 2014 eine «Weiterbildungskette» zum Thema Flucht und Schule. Sie führt vom Mentoring-Projekt «Accanto – Ausserschulische Bildung geflüchteter Kinder», über verschiedene Weiterbildungen für Lehrpersonen, Schulleitende und Behördenmitglieder bis hin zu Supervision, Coaching und Beratung. Die Angebote stehen zudem allen Mitarbeitenden der genannten Institutionen offen, was wiederum substantiell zur Netzwerkbildung beiträgt.
Fazit
Auf dem Weg zu einer gelingenden schulischen Integration braucht es den Willen, die Bedürfnisse und Ressourcen geflüchteter Kinder und Jugendlicher (und ihrer Eltern) differenziert wahrzunehmen und kreative Lösungen zu ihrer inklusiven Stabilisierung und Förderung zu entwickeln – unter Einbezug der Bedürfnisse und Ressourcen der Lehrpersonen.
Das bedeutet, den Themenkreis «Bildung und Migration» auf allen Ebenen weiter zu etablieren, die Entwicklung und Beforschung neuer Konzepte zu alimentieren und auch, die Chancengerechtigkeit bei allen Schulentwicklungen mitzudenken. Die Weiterbildung zum Thema sollte nicht nur für Lehrpersonen, sondern auch für Schulleitende und Behördenmitglieder obligatorisch sein. Den Lehrpersonen müssen fundierte Beratung, begleitendes Coaching und Supervision angeboten werden, wenn nötig, zusätzlich auch weitere unterstützende Ressourcen wie zusätzliche DaZ-Stunden oder Team-Teaching. Dabei sollten alle Beteiligten gemeinsam transinstitutionell, multiperspektivisch und co-creativ handeln, unter Einbezug aller involvierten Institutionen – und insbesondere unter Beteiligung der Eltern und der geflüchteten Kinder und Jugendlichen selbst.
Bettina Looser leitet den Fachbereich «Bildung und Migration» an der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen, ist Mitglied des Erziehungsrates des Kantons Schaffhausen und bildet, berät und coacht seit Jahren Lehrpersonen und Schulen, NGO-Mitarbeitende und andere Fachleute im Bereich Migration, Flucht und Integration. Sie hat diverse Integrations-Projekte für Geflüchtete und ihre professionellen oder freiwilligen BegleiterInnen entwickelt, davon mehrere zur Unterstützung der schulischen Integration geflüchteter Kinder: Das Mentoringprojekt Accanto der PHSH (Studierende begleiten geflüchtete Geschwistergruppen bei der ausserschulischen Bildung), das Tool «Assieme-Sit-In» der Schulsozialarbeit Schaffhausen (Eltern helfen vor Ort bei der schulischen Integration) oder das «Mentorat Integration», welches Lehrpersonen und Teams bei der Direktintegration migrantischer Kinder unterstützt. Zurzeit konzipiert sie den neuen CAS «Beratung und Coaching im Kontext von Bildung und Migration» der PHSH, welcher Lehrpersonen, Schulsozialarbeitenden und anderen Bildungsakteuren offen steht und im Sommer 2021 startet.
Quellenverzeichnis
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SRF (2019).«Wenn das Recht auf Volksschule nicht für alle gilt», Radio SRF, 26.6.19.
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Foto: Christian Schwier / stock.adobe.com
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