Tuesday, 15. October 2013, 2:25 138180392802Tue, 15 Oct 2013 02:25:28 +0100, Posted by admin1 in Heft 183, 0 Comments

vpod bildungspolitik 183


Migration
ZuwanderInnen bereichern die Schweiz sowohl volkswirtschaftlich wie kulturell.
Noch mangelt es aber an der angemessenen Wertschätzung dafür.

 

Inhaltsverzeichnis
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Bildung und Migration aus ökonomischer Perspektive
Seit Ende der neunziger Jahre sind die EinwanderInnen immer besser qualifiziert. Welche Auswirkungen hat dies auf die Schweizer Volkswirtschaft und die Erfolgschancen von Einheimischen und MigrantInnen auf dem Arbeitsmarkt?
Von Thomas Ragni
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Blickwechsel
Mit knappen Streiflichtern auf eigene Erfahrungen sollen hier Impulse für eine Annäherung an die Pädagogik der Vielfalt gegeben werden.
Von Peter Wanzenried
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Prekäre Arbeitssituation von Lehrpersonen für «Heimatliche Sprache und Kultur» (HSK)
Die Ausbildung der HSK-Lehrpersonen ist vergleichbar mit den schweizerischen Lehrpersonen, die Löhne sind dagegen oftmals sehr unterschiedlich. Ergebnisse einer Erhebung in den Kantonen Bern, Genf, Jura, Luzern, Solothurn und Waadt1.
Von Ruth Calderón und Rosita Fibbi
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Tagung, linguaprima.ch, 18 Januar 2014

 
Neue Modelle für HSK
Der Erstsprachunterricht in der Schweiz findet oftmals unter prekären Bedingungen statt. Um dessen Rahmenbedingungen zu verbessern und einen weiteren Ausbau zu ermöglichen diskutieren wir an der Tagung Fragen der Organisation, Finanzierung sowie Didaktik des HSK-Unterrichts in der Schweiz.
Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt, dass in einigen europäischen Staaten der Erstsprachunterricht für Migrantenkinder weitgehend in das öffentliche Bildungssystem integriert ist. In welcher Weise wäre das auch in der Schweiz sinnvoll und möglich?
Das Programm der Tagung liegt dieser Ausgabe der bildungspolitik bei.

Anmeldung und weitere Informationen unter
info@linguaprima.ch
www.linguaprima.ch

 

Das aktuelle Heft der vpod bildungspolitik kann bestellt werden unter Email Redaktion.
Jeweils zwei Monate nach Erscheinen sind die Hefte auf unserer Homepage unter «Archiv» als pdf abrufbar.

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Tuesday, 15. October 2013, 1:14 138179964001Tue, 15 Oct 2013 01:14:00 +0100, Posted by admin1 in Heft 183, 0 Comments

Prekäre Arbeitssituation von Lehrpersonen für «Heimatliche Sprache und Kultur» (HSK)


Die Ausbildung der HSK-Lehrpersonen ist vergleichbar mit den schweizerischen Lehrpersonen, die Löhne sind dagegen oftmals sehr unterschiedlich. Ergebnisse einer Erhebung in den Kantonen Bern, Genf, Jura, Luzern, Solothurn und Waadt1.

Von Ruth Calderón und Rosita Fibbi

Die Erhebung zur Arbeitssituation und zu den Weiterbildungsbedürfnissen der Lehrpersonen in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) soll dazu beitragen, ein realistisches Bild von den Voraussetzungen und Bedürfnissen dieser Lehrpersonen im Hinblick auf künftige Weiterbildungsangebote und Verbesserungen der Rahmenbedingungen für den HSK-Unterricht zu erhalten.
In der Erhebung werden die HauptakteurInnen der HSK-Kurse, die Lehrpersonen selbst, befragt. Die HSK-Lehrpersonen sind der Einladung zur Teilnahme an der Umfrage in grosser Zahl gefolgt: 231 unter ihnen, das heisst 52 Prozent der angefragten Personen, haben teilgenommen. Die Erhebung wurde in den Kantonen Bern, Genf, Jura, Luzern, Solothurn und Waadt durchgeführt.
Die Ergebnisse zeigen, dass es im Hinblick auf die Arbeitssituation der HSK-Lehrpersonen keine grundlegenden Unterschiede gibt zwischen den beiden Sprachregionen. Hingegen spielt die Art der Trägerschaft, die den HSK-Unterricht organisiert und anbietet, eine wesentliche Rolle. Die HSK-Lehrpersonen lassen sich je zur Hälfte nach zwei Gruppen unterscheiden.

Rahmenbedingungen bei konsularischen und privaten Trägerschaften
Bei HSK-Schulen, die von Konsulaten oder Botschaften getragen werden, verfügen die Lehrpersonen meist über einen tertiären Abschluss (80 Prozent) und ein Lehrdiplom, haben sichere Anstellungsbedingungen (Monatslohn) und unterrichten hauptberuflich. Sie leben kürzere Zeit in der Schweiz und ihr Aufenthalt ist auf einige Jahre befristet (Rotationsprinzip). Diese Trägerschaften sind im Hinblick auf die Anzahl Kurse und SchülerInnen weit grösser als diejenigen der privaten Trägerschaften und verfügen über eine professionell geführte Koordination. Ihre Zukunft ist unsicher, da die Herkunftsstaaten das Angebot aus Spargründen abbauen.
Bei HSK-Schulen privater Trägerschaften verfügen die Lehrpersonen über unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen für ihre Tätigkeit. Die Mehrheit hat einen tertiären Abschluss (70 Prozent) und ein Lehrdiplom. Rund ein Viertel verfügt nicht über eine pädagogische Ausbildung. Die HSK-Lehrpersonen haben meist prekäre Anstellungsbedingungen (Stundenlohn, 60 Prozent ohne Vertrag). 70 Prozent unterrichten in kleinen Pensen von 2 bis 4 Wochenstunden, fast 40 Prozent dieser Personen erhalten maximal 20 Franken pro Unterrichtsstunde. Der HSK-Unterricht ist entsprechend meist eine nebenberufliche Tätigkeit. Diese HSK-Lehrpersonen leben längere Zeit in der Schweiz, 30 Prozent unter ihnen sind Schweizer BürgerInnen. Diese Schulen verfügen meist über eine ehrenamtlich geführte Koordination. Das HSK-Angebot der privaten Trägerschaften wird in Zukunft eher wachsen oder gleich gross bleiben.
Betrachten wir die Honorare in Verbindung mit den Unterrichtspensen, variiert das monatliche Einkommen je nach Grösse des Pensums sowie Höhe und Art der Entschädigung beträchtlich. Rund 80 Prozent der Lehrpersonen mit einem Kleinpensum von 2 bis 4 Wochenstunden erhalten maximal 40 Franken Stundenlohn, das heisst 38 Prozent zwischen 1 bis 20 Franken und 43  Prozent zwischen 21 und 40 Franken (vgl. Grafik 1). Bei den 45 Prozent HSK-Lehrpersonen, die in der Form eines Monatslohns bezahlt werden, verdienen 35 Prozent zwischen 3000 und 4000 Franken, und 30 Prozent zwischen 4000 und 6000 Franken (vgl. Grafik 2). Diese Löhne erhalten fast ausschliesslich Lehrpersonen, die 11 bis 20 Stunden pro Woche oder mehr als 20 Stunden unterrichten (vgl. Grafik 2).
Was den Bildungshintergrund betrifft kann insgesamt festgestellt werden, dass das Niveau der meisten HSK-Lehrpersonen (86 Prozent) mit pädagogischer Grundausbildung vom Bildungsumfang her vergleichbar mit demjenigen der schweizerischen Lehrpersonen ist.

 

Grafik 2

 

Integration der HSK-Lehrpersonen in die Volksschule auch über Weiterbildung
Die schwache Integration der HSK-Lehrpersonen in die Strukturen der Volksschule zeigt sich in ihren spärlichen Kontakten mit den schweizerischen KollegInnen und den Schulbehörden wie auch im nur teilweise gewährten Zugang zur schulischen Infrastruktur, was Räumlichkeiten und Schulmaterial betrifft. Hier braucht es Verbesserungen, wenn die HSK-Schulen und ihre Lehrpersonen vom Status als tolerierte aber wenig willkommene Gäste in den Volksschulen befreit werden sollen, ein Status der in deutlichem Kontrast zur neuen Politik der Förderung der Mehrsprachigkeit steht.
Mangelnde Kontakte mit der Volksschule gehen nicht einher mit einem Desinteresse der HSK-Lehrpersonen an der öffentlichen Schule, wie die Resultate der Erhebung zeigen. Im Gegenteil weist das von der grossen Mehrheit favorisierte Weiterbildungsthema «Zusammenarbeit der HSK-Schulen mit der Volksschule» darauf hin, dass es bei der Zusammenarbeit mit VertreterInnen der Volksschule aus Sicht der HSK-Lehrpersonen Entwicklungspotenzial gibt. Im Rahmen von Weiterbildungen könnten erste konkrete Schritte in diese Richtung unternommen werden. Naheliegenderweise müssten dann auch Lehrpersonen der Regelschulen eingebunden werden.
Die HSK-Lehrpersonen haben ein ausgewiesenes Interesse sich weiterzubilden. Fast zwei Drittel unter ihnen besuchten in den letzten drei Jahren Weiterbildungen, welche je rund zur Hälfte durch ihre eigenen Trägerschaften und durch schweizerische Institutionen angeboten wurden. Ihre Bedürfnisse nach künftiger Weiterbildung sind ebenfalls beachtlich: drei von vier HSK-Lehrpersonen sind bereit, bis zu 30 Stunden jährlich dafür zu investieren. Neben dem oben genannten Thema wünschen sie Angebote zum «Unterricht in heterogenen Klassen». In den HSK-Klassen bestehen grosse Unterschiede bezüglich der Kompetenzen in der Herkunftssprache und des Alters der SchülerInnen. Ebenso gewünscht werden Weiterbildungen zur «Fremd- respektive Zweitsprachdidaktik» und zur «Entwicklung der Mehrsprachigkeit».
Der Zugang der HSK-Lehrpersonen zur regulären Weiterbildung der Lehrpersonen ist nicht in allen untersuchten Kantonen gewährleistet. So sind denn auch die am meisten genannten Gründe derjenigen, die keine Weiterbildung besucht hatten, dass entweder die Weiterbildungsangebote nicht bekannt sind oder die HSK-Lehrpersonen keinen Zugang dazu haben. Dazu kommt, dass Lehrpersonen mit einem kleinen Unterrichtspensum mit zahlreichen zeitlichen und finanziellen Hürden konfrontiert sind. Ein deutliches Ergebnis zeigt die Frage nach den Kosten: Die Weiterbildungen für HSK-Lehrpersonen müssen möglichst kostenlos sein (Grafik 3). Damit insbesondere auch solche mit einem kleinen Pensum nicht aus finanziellen Gründen (wegen Erwerbseinbussen bei der Haupterwerbstätigkeit oder Kosten für die Kinderbetreuung) auf Weiterbildung verzichten, müssten zudem Mittel und Wege gefunden werden, diesen die eingesetzte Zeit angemessen zu vergüten. Im Kanton Genf besteht zum Beispiel eine gesetzliche Grundlage2, die eine Entschädigung ermöglicht. Eine entsprechende Praxis gibt es bereits bei der Aus- und Weiterbildung von interkulturell Dolmetschenden im Kanton Genf.

Zukunft der HSK-Kurse: weniger Konsulatsangebote, mehr private Trägerschaften
Die Arbeitsmöglichkeiten als HSK-Lehrperson hängen auch von den Zukunftsperspektiven der Trägerschaften ab. Mehr als die Hälfte ist optimistisch bezüglich der Zukunft und erwartet, dass das HSK-Angebot ihrer Trägerschaft wachsen oder gleich gross bleiben wird.
Allerdings stehen die Lehrpersonen einiger Konsulatsschulen, insbesondere derjenigen von Italien und Portugal, vor einer unsicheren Zukunft, was sich auch in deren Einschätzung der künftigen Entwicklung ihrer HSK-Kurse widerspiegelt. Da diese Staaten aufgrund von knappen finanziellen Mitteln bei den HSK-Schulen Abstriche machen, muss mit Veränderungen im Angebot und bei den Arbeitsbedingungen dieser Lehrpersonen gerechnet werden.
Mit diesem Abbau geht nicht automatisch der Bedarf an HSK-Unterricht zurück, die Gefahr besteht jedoch, dass künftig die Qualität des Unterrichts darunter leiden könnte. Es ist davon auszugehen, dass in Zukunft analog zu den Initiativen von Sprachgemeinschaften, bei denen keine staatliche Trägerschaft eines Herkunftslandes zur Verfügung steht, ebenfalls vermehrt private Träger den HSK-Unterricht in diesen Sprachen übernehmen werden. Von daher wäre es sinnvoll, generell die Organisation von HSK-Trägerschaften auf privater Basis (Vereine, Stiftungen) von Seiten der Kantone systematisch zu fördern und zu unterstützen.

HSK-Unterricht fördert die Mehrsprachigkeit
Der HSK-Unterricht leistet einen wichtigen Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit in der Schweiz, welcher umso nennenswerter ist, als das öffentliche Schulsystem bisher finanziell kaum dazu beigetragen hat. Investitionen in die Qualität des HSK-Unterrichts und das Potenzial der Lehrpersonen bedeuten eine optimale Nutzung der vorhandenen Ressourcen. Gut informierte und in die schulischen Strukturen integrierte HSK-Lehrpersonen können in einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft die mehrsprachigen Kinder in ihrer bikulturellen Identität stärken und schulisch fördern. Die regelmässige Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen der Volksschule und der HSK-Kurse bedeutet sowohl für diese selbst wie auch für alle Kinder ein Gewinn.
Aufgrund der Resultate dieser Erhebung und der vorangehenden Überlegungen ergeben sich verschiedene Handlungsfelder:
Die kantonalen Bildungsdirektionen können – allenfalls auch in Zusammenarbeit mit Integrationsfachstellen – die HSK-Trägerschaften, insbesondere die meist ehrenamtlich tätigen HSK-Trägervereine, bei der Organisation des Angebots unterstützen, indem sie informieren, beraten und koordinieren. Sie können zudem die Gemeinden und Schulleitungen im Rahmen von Empfehlungen anleiten zur lokalen Integration der HSK-Kurse in die Volksschulen, insbesondere was den Zugang zur schulischen Infrastruktur und die Verbesserung der gegenseitigen Kontakte anbelangt.
Die Institutionen der LehrerInnenbildung können die Lehrpersonen der Volksschule in der Aus- und Weiterbildung auf die Zusammenarbeit mit HSK-Lehrpersonen vorbereiten. Sie können zudem spezifische Weiterbildungsangebote für HSK-Lehrpersonen anbieten.
HSK-Lehrpersonen haben regelmässig Kontakt mit den Eltern. Sie können auch als Brückenbauende zwischen Migrationsfamilien und Volksschule und im Hinblick auf Beratung in Erziehungsfragen im interkulturellen Umfeld und der zwei- und mehrsprachigen Bildung eine wichtige Rolle spielen. Allerdings müsste diese zusätzliche und nachhaltige Integrationsarbeit bei Vereinsträgerschaften entsprechend entschädigt und in partnerschaftlicher Weise geleistet werden.

Co-Projektleitung der Erhebung zur Arbeitssituation und den Weiterbildungsbedürfnissen der HSK-Lehrpersonen:

Ruth Calderón ist Inhaberin von rc consulta, einem Büro für sozial- und bildungspolitische Fragestellungen. Sie ist Fachexpertin für Integration und interkulturelle Bildung. HSK-Schulen kennt sie unter anderem auch durch ihr Engagement als Vorstandsmitglied der Lateinamerikanischen (HSK-)Schule in Bern.
Rosita Fibbi forscht zu Migrations- und Integrationsfragen am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien SFM in Neuenburg und lehrt an der Universität Lausanne.


1 Ruth Calderón, Rosita Fibbi, Jasmine Truong (2013): Arbeitssituation und Weiterbildungsbedürfnisse von Lehrpersonen für Kurse in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK). Erhebung in sechs Kantonen (BE, GE, JU, LU, SO und VD). Bern und Neuenburg, Veröffentlichung Anfang November 2013 im Internet auf: www.rc-consulta.ch, www.migration-population.ch
2 Loi sur la formation continue des adultes (LFCA).


 

Neue Modelle für HSK
Der Erstsprachunterricht in der Schweiz findet oftmals unter prekären Bedingungen statt. Um dessen Rahmenbedingungen zu verbessern und einen weiteren Ausbau zu ermöglichen diskutieren wir an der Tagung Fragen der Organisation, Finanzierung sowie Didaktik des HSK-Unterrichts in der Schweiz.
Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt, dass in einigen europäischen Staaten der Erstsprachunterricht für Migrantenkinder weitgehend in das öffentliche Bildungssystem integriert ist. In welcher Weise wäre das auch in der Schweiz sinnvoll und möglich?
Das Programm der Tagung liegt dieser Ausgabe der bildungspolitik bei.

Anmeldung und weitere Informationen unter
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Foto: Ermolaev Aleksandr – Fotolia.com
Grafik 1 und 2: Quelle: Calderón, Fibbi, Truong 2013
Grafik 3: Quelle: Calderón, Fibbi, Truong 2013

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Tuesday, 15. October 2013, 1:01 138179889301Tue, 15 Oct 2013 01:01:33 +0100, Posted by admin1 in Heft 183, 0 Comments

Blickwechsel


Mit knappen Streiflichtern auf eigene Erfahrungen sollen hier Impulse für eine Annäherung an die Pädagogik der Vielfalt gegeben werden.

Von Peter Wanzenried

Seit meinem Studienaufenthalt am «Institute for the Arts and Human Development» der Lesley University in Cambridge USA vor mehr als 20 Jahren ist es eines meiner zentralen Anliegen, Lernerfahrungen zu ermöglichen, die einen kleinen Beitrag zu einer Pädagogik der Vielfalt leisten. In der aktuellen Fachsprache: Diversitätskompetenz fördern.1
Einige Spuren dieser Erfahrungen möchte ich hier nachzeichnen, weil ich überzeugt bin, dass Grundhaltungen von Lehrpersonen unabdingbare Voraussetzung sind, damit institutionelle Rahmenbedingungen und didaktische Konzepte im Schulalltag greifen.

Das Fremde erfahren und reflektieren
Es war mein erster längerer Aufenthalt in der Fremde, damals. Nie hätte ich vorher gedacht, dass mich die USA faszinieren könnten, ich steckte voller Vorurteile. Und dann tauchten wir ein. Wir erlebten einen uns fremden Alltag. Die multikulturell zusammengesetzte Lerngruppe am Lesley College führte mich in engen Kontakt mit Menschen aus aller Welt. Geschichten erzählen, Musizieren, Theater spielen boten uns Gelegenheit, unsere unterschiedlichen Erfahrungshintergründe ins Spiel zu bringen und auszutauschen. Besonders eindrücklich waren für mich auch die Kontakte mit den «Native Americans». So bleibt mir unvergesslich, was ich im Canyon de Chelly von den Navajos gelernt habe:
«Wenn du ins Canyon de Chelly kommst, gelangst du in eine Heimat in doppeltem Sinne: in die individuelle Heimat der Navajos und in eine Heimat in weiterem, spirituellen Sinn. […] Viele Fremde versuchen, diese Erfahrung direkt in ihr eigenes Leben zu übertragen. Das gelingt nicht. […] Aber sie können trotzdem Werterlebnisse werden. […] Sie können vielleicht dem Ort mehr Bedeutung geben, den du Heimat nennst, wenn du dorthin zurückkehrst.2
Von zentraler Bedeutung war es für mich, all diese reichen Erfahrungen laufend zu reflektieren und sie mir so anzueignen. Solche Vertiefung erfordert Zeit und Geduld, oft auch eine entsprechende Aufgabenstellung. So habe ich damals meine Erfahrungen in poetischer Verdichtung zusammengefasst3:

Im Fremden
das Vertraute erkennen
immer wieder

Im Vertrauten
das Fremde suchen
immer wieder

Durch das Fremde hindurch
in die Tiefe blicken
und vertraut werden

Durch das Vertraute hindurch
in die Weite blicken
und fremd werden

Im Fremden vertraut
im Vertrauten fremd
immer wieder, immer wieder
beides!

Ein Musterbeispiel, wie solche Lernerfahrungen im Rahmen der Ausbildung und Weiterbildung von Lehrpersonen ermöglicht werden können, schildert Elisabeth Hösli in ihrer im Entstehen begriffenen Dissertation. Im Rahmen der PHZH führt sie seit Jahren Studienreisen in den Kosovo durch. Zentrale Elemente dieser Reisen sind neben Schulbesuchen und Besichtigungen einwöchige Aufenthalte in einer Gastfamilie und regelmässige Reflexionen mit gestalterischen Mitteln. Möglichst tiefes Eintauchen also einerseits und heraustretendes Distanznehmen andererseits. In den von ihr ausgewerteten Interviews mit Teilnehmenden wird deutlich, wie tief diese Erfahrungen gehen und wie nachhaltig sie wirken:
«Dort habe ich wirklich das Fremde gespürt, also das Nicht-wissen-können, was der andere denkt, was der andere meint. Eigentlich genau das, warum wir hier sind, eben um das Thema Migration zu erleben. Und das habe ich erlebt.»
«Und ich spürte da bis zum Schluss eine grosse Distanz und immer noch ein Fremdsein. Das hat mich auch sehr beschäftigt, darf ich fremd bleiben, auch weil, auch wenn ich Gast bin?»
«Und das Tagebuch war eigentlich die Person am Abend, wenn ich im Bett lag. Es war für mich die Person, der ich erzählte, was ich erlebt habe. […] Manchmal kam ich dann vielleicht wieder auf eine Erkenntnis mehr.»4

Von Erfahrungen des Fremdseins lesen
Einen zweiten Weg zur Erhöhung meiner Diversitätskompetenz sehe ich in meiner Lektüre. Es ist wohl kaum Zufall, dass ich immer wieder an Bücher gerate und von ihnen gefesselt werde, welche das Hin-und-her -gerissen-sein zwischen Heimat und Fremde thematisieren. Dazu nur einige Beispiele aus meiner aktuellen Sommerlektüre:
Gleich zu Ferienbeginn las ich «Die undankbare Fremde» von Irena Breznà. Eine schonungslose Abrechnung mit unserem Umgang mit den Fremden. Aber auch mit dem Verhaftetsein in der eigenen Herkunft. Und dann das langsame Herantasten an die Paradoxie von Heimat und Fremde: «Mein Hochseilakt bekam eine Richtung – das Denken hinter jedem Denken zu erforschen. Die vertraute Ganzheit hatte ich unwiederbringlich verloren, doch ich wurde fähig, ein Stückchen Vertrautheit in manch Unvertrautem zu entdecken. Ein neues Kleid würde ich mir zusammenschneidern, ein nie dagewesenes.» (S. 131)5 Berichte, die unter die Haut gehen.
Als Gegenstück gleich darauf ein älteres Buch von Lukas Hartmann: «Die Wölfe sind satt». Es erzählt vom schwierigen Umgang mit fremden Menschen im eigenen Land, von Männern, die keineswegs fremdenfeindlich sind, aber am herausfordernden Ernstfall scheitern. Drei kurze Geschichten mit Angeboten, mich zu identifizieren im Widerstreit zwischen meiner Absicht, Fremden zu helfen und meinem Reflex, für mich selbst zu sorgen. Ja, genau so widersprüchlich ist das eben.6
Darauf das neueste Buch von Alex Capus «Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer»7 Drei Biografien von Menschen unterwegs.»Wie alle Nomaden richteten sie sich in der Routine des Reisens häuslich ein. […] Das lange Umherziehen hatte sie weltgewandt und reiseklug gemacht, ihr Horizont umspannte die Welt. Aber sie waren wurzellos und bindungslos, und im Herzen ein wenig verkümmert. Und das schon in dritter Generation.» (S. 46/49) Voller hoher Ideale und dann so hart auf die Probe gestellt von den Ereignissen im Laufe des letzten Jahrhunderts. Auch hier wird eindrücklich nachvollziehbar, wie konfliktreich das Leben zwischen den Kulturen ist.
Und schliesslich sei mein Rückgriff auf ein Buch von Ilma Rakusa erwähnt. Seit ich «Mehr Meer» gelesen habe, sind für mich ihre Schilderungen von Abschied, Aufbruch, Ankunft als Grunderfahrungen jeder Migration exemplarisch. «Eigentlich waren wir immer am Packen. […] Wenn Mutter sich über den tiefen Kofferschlund beugte, war es soweit. … Noch waren wir nicht fort, aber auch nicht mehr da, und je länger das Packen dauerte, desto lähmender empfand ich es. Ich wurde ja auch nicht gefragt. Das Weggehen entschieden die andern. Die Eltern, die Umstände. Du kommst mit. Ich ging mit. Ins Unbekannte. Ins nächste Provisorium. Eine Kindheit lang. (S. 34 f.)8
Die Reihe liesse sich endlos weiterführen. Solche Geschichten helfen mir weit mehr, mich auf multikulturelle Auseinandersetzungen einzulassen als noch so belegte Analysen und politisch motivierte Postulate. Auch in der Auseinandersetzung mit solcher Lektüre liegen wohl Ansatzpunkte für entsprechende Ausbildungsmodule.

Multikulturelle Kunstprojekte
Eben komme ich von der Biennale di Venezia zurück. «Il Palazzo Enciclopedico» ist das diesjährige Thema. Und so werden dann aus unterschiedlichsten Perspektiven Blicke auf zentrale Themen unserer Welt geworfen. In den Pavillons der einzelnen Nationen ist diese Vielfalt mit Händen zu greifen. Jede Kultur stiftet ihren Beitrag zu einer ganzheitlichen Sicht. Die Werke der einzelnen Künstlerinnen und Künstler künden mit sehr verschiedenen Ausdruckformen von ihrer Sicht auf die Leiden und Hoffnungen unserer Zeit. Und dann ist da eine Besucherschar aus aller Welt. Leider habe ich es nicht gewagt, mit Menschen aus andern Ländern ins Gespräch zu kommen, hätte es mich doch wirklich interessiert, von ihren Eindrücken zu hören. Aber auf jeden Fall hat diese künstlerische Zusammenschau mir auch diesmal viele Denkanstösse gegeben, und meine Überzeugung genährt, dass die Künste in unserer globalisierten Welt einen bedeutsamen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis jenseits kommerzieller Interessen leisten könnten.
Wie intensiv der Austausch in Sprachen der Künste ist, erfahre ich immer wieder an den Treffen des internationalen Playback-Theater- Netzwerkes.
Gruppen aus aller Welt treffen sich regelmässig, um mit Formen des Improvisationstheaters vom Publikum erzählte Geschichten auf die Bühne zu bringen. Mein letztes Treffen 2011 in Frankfurt stand unter dem Thema «Playback Theater – Sozialer Dialog in der Welt des Umbruchs» und richtete den Blick explizit auf Vielfalt und Migration. In einem Workshop, geleitet von einer Gruppe aus Japan, erlebte ich zusammen mit Menschen aus Russland, Israel, Italien, Deutschland, Chile die spezifische Ausprägung dieser Theaterform auf dem kulturellen Hintergrund Japans. Aufführungen von Gruppen aus Finnland, New York, Kuba zeigten eine gros-se Bandbreite des Umganges mit erzählten Geschichten. Das alles war keinesfalls konfliktfrei. Wie dann aber Jonathan Fox, Gründer und geistiger Vater dieses Netzwerkes, diese Gegensätze und Auseinandersetzungen im Plenum mit humorvoller Distanz ansprechen, ernst nehmen und als unumgänglich auf dem Weg zur interkulturellen Verständigung einordnen konnte, war für mich ein unübertreffliches Beispiel von Diversitätskompetenz.9
Mit diesen knappen Streiflichtern auf meine eigenen Erfahrungen hoffe ich Impulse zu geben, wie wir der dringend notwendigen Pädagogik der Vielfalt in kleinen Schritten näher kommen könnten.


1 Vgl. zur Klärung der Fachbegriffe und ihrer Hintergründe: C. Allemann-Ghionda (2013): Bildung für alle, Diversität und Inklusion: Internationale Perspektiven. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh.
2 Frei übersetzt aus einem Informationsblatt der Navajos.
3 Vgl. P. Wanzenried (2008): Unterrichten als Kunst. Zürich: Pestalozzianum. S. 28.
4 Aus der im Entstehen begriffenen Dissertation von E. Hösli, Zürich.
5 I. Breznà (2012): Die undankbare Fremde. Berlin: Galiani.
6 L. Harmann (1993): Die Wölfe sind satt. Zürich: Nagel und Kimche.
7 A. Capus (2013): Der Fälscher, die Spionion und der Bombenbauer. München: Hanser.
8 I. Rakusa (2011): Mehr Meer. Berlin: Bloomsbury.
9 Vgl. J. Fox (1994): Acts of Service. New Paltz: Tustala.


Foto: Tim Toppik / photocase.com

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Tuesday, 15. October 2013, 0:52 138179836712Tue, 15 Oct 2013 00:52:47 +0100, Posted by admin1 in Heft 183, 0 Comments

Inhalt 183


MIGRATION

04 Aus ökonomischer Perspektive
In die Schweiz kommen immer besser qualifizierte MigrantInnen.

09 Blickwechsel
Ein Plädoyer für eine Pädagogik der Vielfalt.

11 FBBE-Orientierungsrahmen
Ein neues Hilfsmittel für die pädagogische Arbeit im Frühbereich.

14 Blick von der Kindergartenstufe
Ein Kommentar zum FBBE-Orientierungsrahmen.

15 Schule mit Migrantenkindern
SchülerInnen profitieren von einem kulturell und sprachlich vielfältigen Umfeld.

16 Arbeitsbedingungen HSK
Ergebnisse einer Studie über die Lehrpersonen für «Heimatliche Sprache und Kultur» (HSK).

19 Zukunft des Erstsprachunterrichts
Die Tagung der IGE am 18. Januar 2014 in Bern.

 

AKTUELL

20 Lehrplan 21 in der Vernehmlassung
Probleme und Defizite des aktuellen Entwurfs.

21 Lehrplan ohne Recht auf Bildung?
Die EDK hat ein Problem mit den Menschenrechten.

23 Kurznachrichten

24 Weiterbildung als Geschäft?
Eine Kritik marktförmiger Bildungsangebote und bürokratisch-hierarchischer Schulstrukturen.

26 Perspektiven an der Hochschule
An den Universitäten besteht ein Mangel an unbefristeten Stellen ohne professoralen Status.

 

BÜCHER

28 Bildung für alle

28 Elternbeteiligung

29 Hasenreime

30 Spurensuche

 

FILM

32 Taxi Sister

34 Ganz auf Linie

 

IMPRESSUM

Redaktion / Koordinationsstelle
Birmensdorferstr. 67
Postfach 8279, 8036 Zürich
Tel: 044 266 52 17
Fax: 044 266 52 53
Email: redaktion@vpod-bildungspolitik.ch
Homepage: www.vpod-bildungspolitik.ch

Herausgeberin: Trägerschaft im Rahmen des Verbands des Personals öffentlicher Dienste VPOD
Einzelabonnement: Fr. 40.– pro Jahr (5 Nummern)
Einzelheft: Fr. 8.–
Kollektivabonnement: Sektion ZH Lehrberufe;
Lehrberufsgruppen AG, BL, BE (ohne Biel), LU, SG.
Satz: erfasst auf Macintosh
Layout: Sarah Maria Lang, New York
Titelseite Foto: knallgrau / photocase.com
Druck: Ropress, Zürich

ISSN: 1664-5960
Erscheint fünf Mal jährlich
Redaktionsschluss Heft 184: 28. Oktober 2013
Auflage Heft 183: 3500 Exemplare
Zahlungen:
PC 80 – 69140 – 0, vpod bildungspolitik, Zürich
Inserate: Gemäss Tarif 2011; die Redaktion kann
die Aufnahme eines Inserates ablehnen.

Redaktion
Verantwortlich im Sinne des Presserechts
Johannes Gruber
Redaktionsgruppe
Christine Flitner, Markus Holenstein, Ernst Joss, Ute Klotz, Ruedi Lambert (Zeichnungen),
Romina Loliva, Urs Loppacher, Thomas Ragni, Martin Stohler, Ruedi Tobler, Peter Wanzenried
Beteiligt an Heft 183
Ruth Calderón, Rosita Fibbi, Mireille Gugolz, Hans Huonker, Isabelle Rüttimann Dumont, Patricia Schwerzmann Humbel, Regina Stauffer, Peter Streckeisen, Yvonne Tremp, Samuel Wanitsch


Foto: vareschka / photocase.com

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Monday, 14. October 2013, 22:51 138179108310Mon, 14 Oct 2013 22:51:23 +0100, Posted by admin1 in Heft 183, 0 Comments

Bildung und Migration aus ökonomischer Perspektive


Seit Ende der neunziger Jahre sind die EinwanderInnen immer besser qualifiziert. Welche Auswirkungen hat dies auf die Schweizer Volkswirtschaft und die Erfolgschancen von Einheimischen und MigrantInnen auf dem Arbeitsmarkt?

Von Thomas Ragni

Im Laufe der 90er Jahren hat ein tief greifender Bewusstseinswandel in der schweizerischen Migrationspolitik eingesetzt: Bis dahin waren hohe und sogar steigende Einwanderungs- und Grenzgängerzahlen (vgl. Überblick in Abbildung 1) zumindest sozial und ökonomisch – und sowohl auf Jobsucher- wie auf Jobanbieterseite – so lange akzeptiert, wie sie die relative Position auf dem Arbeitsmarkt des Grossteils der bereits ortsansässigen erwerbstätigen Bevölkerung zumindest nicht verschlechterte, in der Tendenz sogar verbesserte. Diese Personen waren die «WachstumsgewinnerInnen».
Nur aus «kulturellen» oder «identitätspolitischen» Gründen der sogenannten «Überfremdung» türmten sich einige Wellen des politischen Widerstandes auf. Die Koalition der IdentitätspolitikerInnen mit der Minderheit der einheimischen ökonomischen «WachstumsverliererInnen» fuhr allerdings in Abstimmungen stets, wenn auch zum Teil sehr knappe Niederlagen ein. Als öffentlich bekundete Manifestation blieb Fremdenfeindlichkeit ein episodisches Phänomen. Sie war die meiste Zeit in der «Schweigespirale» der öffentlichen Tabuisierung gefangen, kanalisierte sich höchstens in symbolisch eng definierten (und damit wirtschaftlich belanglosen) Grenzen gegen «Asylanten» und «kriminelle Ausländer». Der Grund waren die letztlich dominierenden realen ökonomischen Interessenlagen. Denn das Phänomen der «Unterschichtung» erlaubte den Unternehmen die Rekrutierung «billiger Arbeitskräfte» – mit entsprechend schlechter Ausbildung und/oder schlechten Sprachkenntnissen – und bewirkte bei den einheimischen Erwerbstätigen, dass ihre Lohn- und Karriereerwartungen und die allgemeinen Beschäftigungsbedingungen nicht gefährdet wurden. Sie konnten diesbezüglich unattraktive und prekäre Jobs verlassen oder vermeiden, weil es auch für tiefer qualifizierte Einheimische damals noch genügend reguläre Jobs (mit unbefristeter Anstellung und anständigen Löhnen) gab.

Der übergeordnete Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung und ihre Interpretation
Doch seit Anfang der 90er Jahre setzte eine hartnäckige BIP-pro-Kopf-«Wachstums-schwäche» ein, die auch die Erwerbslosenzahlen säkular und nicht bloss konjunkturell auf vorher nie gekannte Ausmasse ansteigen liessen. Der in dieser Zeit dominant werdende «neoliberale» Diskurs hatte rasch zahlreiche plausibel tönende Diagnosen des «Staatsversagens» bei der Hand, zum Beispiel den angeblich zu generösen Sozialstaat oder vom Staat protegierte, abgeschottete, überregulierte Märkte. Eine andere gängige und noch heute kolportierte Diagnose lautete1: Die Rekrutierung hauptsächlich tief qualifizierter Arbeitskräfte im Ausland hatte primär die binnenorientierte Wirtschaft satt und träge gemacht. Bei unbeschränkt verfügbarer billiger Arbeitskraft lohnten sich Investitionen in Effizienzsteigerung und Innovationsstrategien nicht mehr. Der Marktwettbewerb war entweder durch Subventionierung, Kartellisierung und kantonale Schutzwälle fast ganz ausgeschaltet, oder er degenerierte zur «Schlafmützenkonkurrenz». Das Ergebnis war «Strukturerhaltung» und eine chronisch gewordene Wertschöpfungsschwäche. Panik! Die Schweiz drohte im «globalen Standortwettbewerb» schleichend, aber unumkehrbar zurückzufallen.2
Scheinbar war diese Analyse zutreffend, denn die neoliberalen Rezepte begannen zu wirken: Ab Ende der 90er Jahren setzte weitgehend unabhängig von der Konjunktur ein ungeahnt langfristiger und kräftiger Wirtschaftsboom ein, der sowohl die Stellensuchendenquote3 wieder deutlich absinken liess (wenn auch nicht mehr auf das extrem tiefe Niveau der 80er Jahre, vgl. Abbildung 2) als auch die Netto-Immigration, die Grenzgängerzahlen und die Erwerbstätigkeit der bisher ortsansässigen Bevölkerung wieder anschwellen liess (vgl. Abbildung 1). Die Konjunkturentwicklung hatte lediglich einen zeitweise etwas dämpfenden beziehungsweise verstärkenden Einfluss. Und man vermied es in der Folge auch sorgfältig, nur noch niedrig und schlecht qualifizierte Billig-Arbeitskräfte ins Land zu locken.

Grafik 1.Verlauf der Zahl der bisher ortsansässigen Erwerbstätigen, der Grenzgänger und der Netto-Migration

Grafik 2

Doch Zahlen «sprechen» bekanntlich nie für sich allein. Nicht ins neoliberale Interpretationsrater passt zum Beispiel, dass das Freizügigkeitsabkommen (FZA) der Schweiz mit der EU keinen (unmittelbar) kausalen Einfluss gehabt zu haben scheint, weil es erst 2002 in Kraft gesetzt wurde und danach bis 2008 noch zahlreiche Übergangsregeln kannte. Ausserdem gab es bereits in den 80er Jahren eine starke Netto-Immigration und kräftige Grenzgängerflüsse, die beide erst in der Stagnationsphase bis Mitte 90er Jahren immer mehr abflauten. Und alle übrigen «Deregulierungs»- und Privatisierungsschritte – unabhängig davon, wie man politisch dazu stehen mag – verliefen viel zu zögerlich und zu halbherzig, als dass sie den geschilderten massiven Boom ab Ende der 90er Jahre massgeblich zu erklären vermöchten. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass ab dann zwar immer besser qualifizierte Ausländer ins Land kamen, aber die bisher ortsansässige Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter fast genauso schnell immer besser ausgebildet wurde (vgl. dazu das folgende Kapitel).
Welche Erklärungsfaktoren könnten stattdessen eine Rolle gespielt haben?
(a) Die Notenbank gab Mitte der 90er Jahre ihre dogmatische, von «Inflationsängsten» getriebene Geldmengensteuerung (des sogenannten «Monetarismus») auf, die zeitweise extrem hohe Zinsen verursachte, und ging über zu einer pragmatischen Zinssteuerung (und inoffiziell auch zu einer Wechselkurssteuerung – wie sie heute ja offiziell gilt). Das half dem Exportsektor ganz gehörig auf die Sprünge.
(b) Weiter unterstützt wurde der Exportanstieg durch die lohnkostendämpfenden Effekte, die sich in der Stagnationsphase bis Mitte der 90er Jahre auf dem schon immer «freien» schweizerischen Arbeitsmarkt (ohne Mindestlöhne, ohne Kündigungsschutz) rasch durchsetzen konnten. Die durchschnittliche Stundenlohnentwicklung für den (sehr breit definierten) «Mittelstand» (der abhängig beschäftigten Normalverdiener) stagnierte inflationsbereinigt auch noch lange während der ab Ende der 90er Jahre einsetzenden Boomzeiten (vgl. Abbildung 3).

Grafik 3

Grafik 4

(c) Weiter verstärkt wurde diese Umverteilung zulasten des «breiten Mittelstandes»4 auch noch durch den offiziell propagierten «Steuersenkungswettbewerb», der als neoliberales Rezept zur Abmilderung der «Staatsversagens» angepriesen wurde, manchmal sogar als «mittelstandsfreundliche Politik» verkauft wurde.
Die Faktoren (b) und (c) sind zwar sehr nützlich für eine sogenannte «angebotsorientierte» Wirtschaftspolitik, weil sie wichtige Kosten der Unternehmen senken helfen. Eine solche Politik kann aber gesamtwirtschaftlich nicht nachhaltig sein, weil sie mit der Zeit die Binnennachfrage zu stark schwächt. Wenn dann mitten im Konjunkturabschwung der Staat auch noch zum Mittel der Budgetsanierung greift, also seine Ausgaben einschränkt (was in der Schweiz immer wieder passiert ist), kommt es schliesslich zur akuten Gefahr einer Deflation, die die inhärente Tendenz in sich trägt, sich zu verewigen. Ist sie einmal da, helfen auch explodierende Staatsausgaben und -schulden nichts mehr. Es ist dann zu spät. Japan kann davon ein Lied singen.
Wieso ist wie Japan nicht auch die ähnlich reiche und sparwütige Schweiz in diese Falle getappt? Hat die Schweiz nicht so starr wie Japan die öffentlichen Budgets in der Krise gekürzt und weniger fanatisch die «Inflation» bekämpft? Nein, im Gegenteil, die Schweiz hat sich diesbezüglich viel weniger pragmatisch als Japan verhalten und sehr «linientreu» bis dogmatisch-stur die neoliberale Heilslehre vertreten. Hat die Schweiz viel umfangreicher «dereguliert» als Japan? Nein, auch nicht. In der Schweiz sind die beharrenden Lobbyinteressen genauso mächtig wie in Japan. Doch im Unterschied zu Japan ist die Schweiz keine echte Insel, sondern nur eine imaginäre Insel der Glückseligen. Spätestens nach dem Immobiliencrash Ende der 80er Jahre war die Gefahr deflationär wirkender struktureller Nachfragelücken akut geworden. Die ab dann regelmässig wiederzukehren drohenden Nachfragelücken wurden in der Schweiz in erster Linie durch «spontan» immer wieder kräftig einsetzende Netto-Immigrationsschübe aufgefüllt, in zweiter Linie auch durch «spontan» anschwellende Grenzgängerströme und spiegelbildlich durch den Zuzug steuerprivilegierter reicher Ausländer. Das FZA als Reflex einer politischen Planung hatte dagegen, wie erwähnt, wenig bis keine eigenständige Wirkung entfaltet. Der kräftige «spontane» zahlenmässige Anstieg der erwerbstätigen Bevölkerung (vgl. Abbildung 2) verhinderte umgekehrt, dass in der Schweiz die Reallöhne schon bald wieder spürbar anstiegen. Trotz anhaltendem Boom und trotz immer besserem Ausbildungsstand der einwandernden Personen hinkten die stagnierenden Reallöhne weiter der zwar tendenziell sinkenden, aber im gleitenden Durchschnitt stets im positiven Bereich bleibenden Arbeitsproduktivitätsentwicklung hinterher (vgl. Abbildung 5). Darum sank die um die Spitzenmanagerlöhne «bereinigte» Lohnquote am BIP kontinuierlich ab.5 Bei ungefähr konstant bleibender relativer Lohnverteilung und bei stagnierenden Reallöhnen im Spektrum der «Normalverdiener» hätte es trotz kräftig zunehmender Erwerbsbevölkerung zu einer allmählich einsetzenden Nachfrageschwäche kommen müssen, zumal auch die strukturell viel zu hohe durchschnittliche Sparquote nicht abnahm. Doch der immer weiter steigende Exportüberschuss (beziehungsweise die steigende Netto-Auslandsnachfrage) hat dies – ganz ähnlich wie in Deutschland – bislang verhindert. Der spiegelbildliche inländische Sparüberschuss ging in den Nettokapitalexport (z.B. in Direktinvestitionen im Ausland und in den Kauf ausländischer Wertpapiere). In jüngerer Zeit (seit der Finanzkrise) wird ein wachsender Anteil davon in liquiden Mitteln (un-) freiwillig gehortet. Die Grossunternehmen und Banken schwimmen immer mehr im Geld – und wissen immer weniger damit anzufangen. (Darum ist die Gefahr der Bildung von immer wieder neuen Vermögenspreisblasen keineswegs gebannt, und auch nicht jene der «Währungskrisen» beim Platzen der Blasen.) Weil die Kapitalverleiher noch immer «risikoscheu» sind, leiden trotz immer grösserer Geldschwemme die kleinen und mittleren Betriebe vor allem in den südlichen Krisenländern unter einer sich verschärfenden Kreditverknappung. Eine solche Situation nennt J. M. Keynes eine «Liquiditätsfalle».

2. Einige statistische Bilder zu Trends und Trendveränderungen bei den Bildungsabschlüssen und der Arbeitsproduktivität und ihre möglichen Erklärungen
Zunächst eine Grafik, die in einem Vergleich des inländischen Bildungs-«Outputs» mit der «bildungsbezogenen» Migrationspolitik die wesentliche «Botschaft» der seit den 90er Jahren verfolgten Bildungspolitik auf recht klare und einfache Weise zum Ausdruck bringt:
Im Jahr 1993 beginnt die Tertiärausbildungsquote der dauerhaft ansässigen erwerbstätigen ImmigrantInnen aus den EU-27- und EFTA-Staaten erstmals jene der bisher ortsansässigen Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 64 Jahren zu übertreffen. Danach steigt sie bis 1997 sprunghaft an. Die Ära der «Unterschichtung» ist spätestens ab dann hinsichtlich des durchschnittlichen Bildungsstandes endgültig passé.6 Ab 1997 bleibt der Niveauunterschied in der Tertiärausbildungsquote zwischen den beiden betrachteten Gruppen im mehrjährig gemittelten Vergleich etwa konstant. Das impliziert, dass der Trendanstieg der beiden Tertiärausbildungsquoten über die Zeit betrachtet etwa parallel verläuft.7

Für die Mainstream-Ökonomie der «neoklassischen» Humankapitaltheorie müsste nun der folgende Umstand ein beunruhigendes grosses Rätsel sein: Die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität hat säkular in den letzten 20 Jahren im besten Fall stagniert (das heisst ist auf einem positiven Wert ungefähr konstant geblieben) beziehungsweise ist im Langfristtrend leicht zurückgegangen, während gleichzeitig der durchschnittliche Ausbildungsstand sowohl der ortsansässigen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter als auch jener der Grenzgänger als auch jener der MigrantInnen markant zugenommen hat. Dieser eklatante Widerspruch der Empirie mit der Humankapitaltheorie ist aber anscheinend noch niemandem «aufgefallen».
Um die langfristige Entwicklungen hervorzuheben, sind in Abbildung 5 zusätzlich mit gestrichelten Linien die entsprechenden Trendverläufe eingezeichnet worden. Sie verdeutlichen die hier interessierende «Hauptbotschaft»: Während die beiden Tertiärausbildungsquoten der ortsansässigen In- und Ausländer langfristig kräftig angezogen haben, ist das Wachstum der Arbeitsproduktivität – über die Konjunkturbewegungen hinweg betrachtet – im leichten Sinkflug begriffen.

Grafik 5

Dieser empirische Befund stellt nicht nur die Glaubenssätze der Humankapitaltheorie in Frage, er dementiert ausserdem die oben nacherzählte plausibel tönende neoliberale Story, wonach die bis Mitte der 90er Jahre verfolgte Strategie der «Unterschichtung» mit schlecht qualifizierten Immigranten und Grenzgängern ein wichtiger Grund gewesen sei für die schleichend eingetretene säkulare Pro-Kopf-Wertschöpfungsschwäche der CH-Wirtschaft. Denn diese Schwäche hält unvermindert an, während die «Unterschichtung» zumindest hinsichtlich des Ausbildungsstands der ImmigrantInnen und Grenzgänger längst der Geschichte angehört.

3. Ist nach dem Ende der bildungsmässigen «Unterschichtung» auch die Ära der berufsbezogenen «Unterschichtung» zu Ende gegangen?
Um nebst der bildungsmässigen auch die berufsbezogene «Unterschichtung» zu untersuchen, eignet sich eine grob zusammenfassende Gliederung der standardisierten Berufshauptgruppen8 in die drei Segmente der «Karrierejobs» für Hochqualifizierte, der «unattraktiven (bis prekären) Jobs» für Niedrigqualifizierte und Angelernte, und in die Restkategorie der «normalen Jobs». Sind die In- und Ausländer (mit ständigem Schweizer Wohnsitz) in diesen drei Proxy-Kategorien für segmentierte «Job-Niveaus» (hinsichtlich Lohneinkommen, Arbeitsbedingungen, Sozialprestige…) über- beziehungsweise unterrepräsentiert, gibt dies einen indirekten Hinweis darauf, ob In- und Ausländer berufsbezogen privilegiert beziehungsweise diskriminiert sind. In Kombination mit dem durchschnittlichen Ausbildungsstand der In- und Ausländer ist das Ausmass der «Über-/Unterqualifikation» je Berufssegment ein Indiz der «Diskriminierung» / der «Privilegierung» der beiden Gruppen.
Es sind sehr klare Indizien einer «Überrepräsentation» der AusländerInnen (insbesondere der ImmigrantInnen) bei den relativ unattraktiven Jobs erkennbar. Spiegelbildlich sind die SchweizerInnen bei den Karriere- und Prestigejobs überrepräsentiert. Diese Diskrepanz akzentuiert sich noch, wenn die klar unterdurchschnittliche Tertiärausbildungsquote für die bisher ortsansässigen Erwerbstätigen mitbedacht wird. Die «Unterqualifizierung» der SchweizerInnen liefert ein deutliches Indiz für ihre Privilegierung. Und spiegelbildlich ist die «Überqualifizierung» der AusländerInnen ein deutliches Indiz für ihre Diskriminierung.

Grafik 6

Bei den Personen aus dem EU27- und EFTA-Raum ist die relative «Überqualifikation» 2003 im Vergleich zu den SchweizerInnen nur noch leicht vorhanden und 2012 praktisch verschwunden. Umso massiver zeigen sich diese Indizien für die ImmigrantInnen aus den Drittstaaten. Dazwischen liegen die Werte für die GrenzgängerInnen.
Zur «Diskriminierung» von (immigrierenden) AusländerInnen sind abschliessend einige zu Vorsicht gebietende Differenzierungen und Relativierungen anzufügen:
Die einwandernden Personen werden nicht systematisch «mit falschen Versprechen» in die Schweiz gelockt, sondern sie kommen freiwillig und mit im Durchschnitt realistischen Erwartungen in die Schweiz. Ihre «Outside option» wäre, gar nicht erst einzuwandern. Wenn also eine «Diskriminierung» besteht, dann existiert sie nur in Bezug auf die inländischen Verhältnisse, nicht auch in Bezug auf das Herkunftsland. Weil eine solche Art von «Diskriminierung» nicht im strikten Sinn auf «Alternativlosigkeit» beruht, kann sie auch nicht der Ausdruck von «Unfreiwilligkeit» sein (zum Beispiel durch «Ausnützen einer Zwangslage» etc.).9 Der Begriff der «Diskriminierung» beinhaltet im konkreten Fall daher nur einen objektiven Befund, der rein rückschliessend aus der empirischen Datenlage gewonnen worden ist. Die «Betroffenen» selber müssen subjektiv durchaus nicht den Eindruck gewinnen, in der Schweiz «diskriminiert» zu werden. Im Gegenteil, sehr viele Einwanderer sind glücklich und dankbar, in der Schweiz eine Beschäftigung gefunden zu haben. Zudem verdienen sie «gutes Geld», das dank attraktiver Wechselkurse in ihrem Heimatland sehr viel mehr Kaufkraft als in der Schweiz besitzt.
Dennoch bleibt der objektive Befund der «Diskriminierung» immigrierender Personen unzweifelhaft bestehen. – Oder handelt es sich bloss um ein «statistisches Artefakt»? In diese Richtung argumentiert, wer erstens vermutet oder unterstellt, die symbolisch «gleich lautenden Bildungstitel» würden im Inland systematisch mehr reale Bildungsinvestitionen beinhalten als im Ausland. (Die «Verwässerung» der Bildungstitel sei dort stärker fortgeschritten.) Oder es wird zweitens in Anschlag gebracht, dass einwandernde Personen noch eine lange Zeit die Umgebungssprache nicht oder nur unvollkommen beherrschten, was ihre durchschnittliche Produktivität im Vergleich zu ortsansässigen Personen je Bildungsniveau tiefer ausfallen lässt. Drittens schliesslich sind einwanderungswillige Personen kein repräsentatives Abbild der ausländischen arbeitsfähigen Bevölkerung, sondern eine selektiv nach gewissen Eigenschaften verzerrte Subgruppe. So ist etwa zu vermuten, dass wer weniger familiäre Verpflichtungen hat, mobiler und auswanderungswilliger ist. Nicht alle diese die Auswanderungswilligkeit beeinflussenden Eigenschaften müssen ohne negativen Einfluss auf die je individuelle Produktivität sein. «Vereinsamung» schlägt zum Beispiel auch auf die Arbeitsmoral. Allerdings könnten solche selektiv überrepräsentierten Eigenschaften auch einen systematisch positiven Effekt entfalten (zum Beispiel die «Abenteuerlust»). Doch letztlich sind solche Überlegungen hochspekulativ.

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1 Speziell zur Migrationsthematik vgl. zum Beispiel diverse Beiträge in: «Die Volkswirtschaft» 5-2009.
2 Ein typisch alarmistischer Buchtitel jener Zeit hiess: S. Borner, A. Brunetti, T. Straubhaar (Hg.): Schweiz AG: Vom Sonderfall zum Sanierungsfall, Zürich 1990. – Auf die nahe liegende Idee, dass säkulare «Wachstumsschwäche» ein purer Wohlstandseffekt allmählicher Saturierung sein könnte, war damals niemand gekommen aus der Gilde der sich öffentlich Gehör verschaffenden «Wirtschaftsexperten». Linke und Gewerkschaften vergruben sich defensiv in die Schützengräben, um wenigstens die defensiven Verteidigungslinie «gegen den Abbau des Service public» halten zu können. Den angeblichen «harten Sachargumenten» der Neoliberalen hatten sie nur wehleidige Betroffenheitslyrik und die Leerformel der «sozialen Gerechtigkeit» entgegenzusetzen.
3 Ich habe hier nicht die «offizielle» Stellensuchendenquote berechnet (Stellensuchende in % der ortsansässigen Bevölkerung), und auch nicht die «bereinigte» Quote (in % der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter), sondern die meist vermiedene «ehrliche» Quote (in % der erwerbstätigen Bevölkerung). Dadurch verändern sich aber nur die Niveaus der Prozentzahlen nach oben, doch der hier interessierende relative zeitliche Verlauf (der Dauer und Intensität der Auf- und Abstiege) bleibt sich gleich.
4 Und zugunsten der unverteilten Unternehmensgewinne, der versteckt ausgeschütteten Unternehmensgewinne in Form von Managerbezügen (vgl. Fussnote 5), und der offen ausgeschütteten Unternehmensgewinne für die Kapitalanleger…
5 Dabei handelt es sich, sauber funktional definiert, sowieso gros-senteils nicht um echte «Löhne». Wird die Lohnhöhe nicht einfach als Stundenfixum festgesetzt oder an selbst beeinflussbare (betriebsintern steuerbare) Effort- oder andere Indikatoren der Input-«Leistung» (der betrieblichen Produktionsfunktion) gekoppelt (im Extremfall beim «Akkordlohn»), sondern wird das «Arbeits»-einkommen mehr oder weniger stark abhängig gemacht vom unwägbaren Markterfolg der Unternehmung, dann handelt es sich um einen funktional definierten Gewinnanteil. Das «unternehmerische Risiko» wird durch den buchhalterisch residual definierten Gewinn abgebildet, und dieses Risiko müssen die «Residual claimants» übernehmen. Im Kapitalismus sollten das «eigentlich» die Eigentümer (die Eigenkapitalgeber) der Unternehmung sein. Bei am Marktergebnis gekoppelten Einkommensbestandteilen (Boni und ähnliches) geht das unternehmerische Risiko jedoch teilweise an die rechtlich definierten «Angestellten» oder «abhängig Beschäftigten» über. Weil vor allem die «Spitzenverdiener» aufgrund ihres Wohlstands dieses Risiko zu tragen fähig sind (das ist ein sogenannte Vermögenseffekt), sind sie auch bereit, es zu übernehmen. Denn während mit steigendem Vermögen ihre «Risikoaversion» immer mehr abnimmt, steigt die «Risikoprämie» umso mehr, je grösser der selber übernommene Anteil des unternehmerischen Risikos ist.
6 Das bedeutet aber nicht, dass ImmigrantInnen je Ausbildungsstufe ab dann «automatisch» nicht mehr diskriminiert würden hinsichtlich der Lohn- und Anstellungsbedingungen. Vgl. Abbildung 6.
7 Leider lässt es sich aus Gründen der statistischen Datenlage nicht vermeiden, dass in der Gruppe der inländischen Bevölkerung mit Tertiärausbildung im Alter zwischen 25 und 64 auch die Gruppe der in der Schweiz dauerhaft erwerbstätigen Immigrantinnen mit Tertiärausbildung aus dem EU27-EFTA-Raum mitenthalten ist. Dennoch ist die geschilderte Parallelität der Trendentwicklung der beiden Tertiärausbildungsquoten deswegen jedoch kein pures Artefakt, weil die zweite Gruppe (2011 rund 40000 Personen) sehr viel kleiner ist als die letztere (2011 rund 1.65 Mio. Personen).
8 Führungskräfte / Akademische Berufe / Techniker und gleichrangige Berufe / Bürokräfte und verwandte Berufe / Dienstleistungsberufe und Verkäufer / Fachkräfte in Land- und Forstwirtschaft / Handwerks- und verwandte Berufe / Anlagen- und Maschinenbediener und Montierer / Hilfsarbeitskräfte (gemäss ISCO-08-Standard)
9 «Unfreiwilligkeit» ist das Definitionsmerkmal für einen «prekären Job». Die einzige «Alternative» wäre «Beschäftigungslosigkeit», so dass im Erwerbsleben beziehungsweise auf dem Arbeitsmarkt keine Alternative existiert. Das «beidseits freiwillige eingegangene Arbeitsvertragsverhältnis» ist eine rechtlich-liberale Illusion oder Fiktion geworden.

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Foto: SP-PIC – Fotolia.com

Abbildung 1: Quelle: 9. Observatoriumsbericht, SECO 2013; eigene Darstellung

Abbildung 2: Quelle: BFS, SECO; eigene Darstellung und Berechnung

Abbildung 3: Quelle: LSE, BFS; eigene Berechnung und Darstellung

Abbildung 4: Quelle: 9. Observatoriumsbericht, SECO 2013 / BFS 2013 / Education at a glance 2013, OECD; eigene Darstellung und Berechnung

Abbildung 5: Quelle: 9. Observatoriumsbericht, SECO 2013 / BFS 2013 / Education at a glance 2013, OECD; eigene Darstellung und Berechnung

Abbildung 6: Quelle: 9. Observatoriumsbericht, SECO 2013; eigene Berechnungen und Erläuterungen

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